Unter der Laterne steht Penelope (Kurzgeschichte)

Nachdem sich Talianna Schmidt hier als Erste mutig vorgewagt hat, um eine selbstgeschriebene phantastische Geschichte mit Antikenrezeption vorzustellen, lege ich heute mit einem Text aus eigener Feder nach. Ich werde da zunächst nicht viel zu sagen, aber vielleicht ergibt sich ja in den Kommentaren eine Gelegenheit, ein bisschen zur Interpretation beizutragen.

Vielen Dank an Steffi vom coffee-thoughts-blog und Stefanie F. für die freundlichen Anmerkungen 😉

Martin und Penelope

Die junge Frau stand allein auf dem dunklen Marktplatz in der Nähe einer mit Blumen geschmückten Straßenlaterne, wo sie auf eine Verabredung zu warten schien. Plötzlich trat ein junger Mann an sie heran. „Hi! Ich heiße Martin. Darf ich aus Deiner Hand lesen?“, fragte er. Überrascht blickte sie ihn an. Der junge Mann namens Martin lachte und entschuldigte sich sofort: „Sorry. Da habe ich Dich gerade wohl ein bisschen überrumpelt. Wenn ich darf, würde ich gerne aus Deiner Hand Deinen Geburtstag ablesen.“ Die junge Frau wirkte zunächst weiterhin irritiert, lächelte aber dann und hielt ihm ihre Hand hin. „Ist schon ok. Tschuldigung, falls ich gerade abweisend gewirkt habe. So hat mich nur noch nie jemand angesprochen. Ich heiße übrigens Penelope.“ Martin ergriff die ihm hingestreckte Hand und schüttelte sie zur Begrüßung, ohne sie wieder loszulassen. „Ist es für Dich in Ordnung, wenn ich Deine Hand lese?“ „Klar, wenn Du glaubst, dass Du das kannst.“, erwiderte Penelope etwas spöttisch-provozierend. „Na, warten wir mal ab!“, erwiderte Martin, bevor er sich die Hand der jungen Frau zurecht drehte und deren Innenseite zu studieren begann, wobei er mit seinem Zeigefinger sanft den dortigen Linien folgte. „Das kitzelt!“, lachte Penelope und zog die Hand etwas zurück, ohne sie Martin aber ganz zu entziehen. „Und? Was liest der große Zauberer in meiner Hand?“ „Hmmm. Also, soweit ich das sehe, bist Du im … Oktober geboren.“ Überrascht blickte sie ihm in die Augen. „Ja. Stimmt!“ Martin nickte kurz, konzentrierte sich dann aber wieder voll auf die Hand. „Den genauen Tag zu lesen, ist etwas schwieriger. Es kann sein, dass ich eher den ungefähren Bereich treffe.“ „Ungefährer Bereich … alles klar.“, antwortete Penelope wieder etwas spöttisch. „Es dürfte der 17. sein. Du bist am 17. Oktober geboren.“, sagte Martin und schaute die Frau erwartungsvoll an. Völlig perplex reagierte diese zunächst gar nicht, bevor sie sich dann wieder fing und das Datum bestätigte. „Ja, ich bin am 17. Oktober geboren! Wie hast Du das gemacht?“ Martin grinste nur und zog Penelope langsam aber bestimmt näher an sich heran, wobei er seinen Blick nicht von ihren braunen Augen abwandte. Als sich ihre Köpfe sehr nah gekommen waren, ergriff sie den seinen unerwartet mit beiden Händen und küsste ihn. Nach einer Weile flüsterte sie ihm ins Ohr: „Magst Du mit zu mir gehen?“ „Klar!“, konnte er gerade noch sagen, bevor Penelope sich und ihn in Bewegung setzte.

5 Minuten zuvor (Teil I): Martin

Langsam begann Martin zu verzweifeln. Der Geburtstagstrick hatte heute noch kein einziges Mal auch nur annährend funktioniert und er hatte sich bereits dutzende Male blamiert. Dabei standen die Chancen mit 1/12 sicherlich nicht sonderlich gut, aber wenn man ausreichend viele Frauen ansprechen würde, müsste es doch statistisch gesehen irgendwann funktionieren. Vielleicht sollte er zunächst die Jahreszeit erraten? Dann lägen die Chancen bei ¼, um die richtige Jahreszeit zu treffen, und bei 1/3, um anschließend den korrekten Monat zu nennen. Fluchend beschloss er nach Hause zu gehen. Als er den Marktplatz erreichte, sah er dort eine attraktive junge Frau einsam unter einer mit Blumen geschmückten Laterne stehen. Dieses eine Mal würde er es noch versuchen. Er setzte ein selbstsicheres Gesicht auf und näherte sich der Frau unter der Laterne, die mit ihren gelockten braunen Haaren, ihren Rehaugen und ihrer etwas kräftigeren Nase mediterraner Herkunft zu sein schien. Die Kontaktaufnahme lief erfreulich gut. Die Frau, die sich als Penelope vorstellte und demnach vielleicht Griechin war, reagierte zunächst etwas zögerlich, dann aber offen und neugierig auf seinen nicht ganz alltäglichen Annäherungsversuch. Als er ihre Innenhand betrachtete, setzte er ein ernstes Gesicht auf, als versuche er eine lateinische Inschrift zu entziffern. Nachdem er eine Weile überlegt hatte, welchen Monat er nun nennen sollte, entschied er sich schließlich für den Oktober, der ihm mit seinem milden Herbstwetter immer schon der liebste Monat gewesen war. Als Penelope den Monat erstaunt bestätigte, konnte er es kaum fassen. Da er jetzt mit einem falschen Tag nicht alles ruinieren wollte, warnte er sie vor, dass es jetzt sehr schwierig werden würde. Nachdem er dann den 17. als Geburtstag genannt hatte, starrte er sie gespannt an, wobei sich ein Knoten um seinen Magen zog, der ihn befürchten ließ, sich vor Anspannung übergeben zu müssen. Es kostete Martin alle Schauspielkunst, sich nicht ansehen zu lassen, dass er ob seines erneuten Erfolges erheblich überraschter als Penelope war, der das Ganze ja ebenfalls absolut unwirklich erscheinen musste. Nach so viel Glück entschloss er sich zu einem vorsichtigen Annäherungsversuch. Auch das lief wie am Schnürchen und es war sogar sie, die zum Kuss ansetzte. Unfassbar! Der modrige Geruch der Blumen, die an der Laterne hingen, lenkte ihn kurzzeitig ein wenig ab, doch ließ er sich davon seinen Augenblick des Triumphes nicht trüben. Als Penelope ihn dann auch noch fragte, ob er mit zu ihr kommen mochte, versagten ihm beinahe die Beine. „Bist Du eigentlich Griechin?“, fragte er, während sie ihn entschlossen hinter sich herzog. Er musste wieder die Kontrolle über die Situation gewinnen. Ein Gespräch. Er brauchte ein Gespräch. Im Reden war er gut. „Ja! Ich bin Griechin. Penelope Lamiadou heiße ich mit vollem Namen. Ich bin aus Korinth.“, antwortete sie und zog ihn in einen Hausflur.

5 Minuten zuvor (Teil II): Penelope

Da sie Vergangenes gerne schnell hinter sich ließ, wechselte sie regelmäßig ihren Wohnort und war noch neu in dieser Stadt. Heute war der erste Abend, an dem sie hier ausging. Der Marktplatz schien gut zu sein. Der Platz unter der Laterne setzte sie optimal in Szene. Günstig waren auch die vielen Blumen, die in Töpfen an der Laterne hingen und kräftig dufteten. Endlich kam ein junger Mann auf sie zu. Er sah durchaus gut aus. Trainierter Körper, sympathisches Gesicht. Ziemlich lecker. Als er sie nach ihrem Namen fragte, stellte sie sich als Penelope vor. Diesen Namen fand sie immer ziemlich passend, wenn sie auf einen Mann wartete. Sie hatte schon viel erlebt. Daher passierte es selten, dass sie etwas überraschte. Der Annäherungsversuch des jungen Mannes, der sich Martin nannte, war aber selbst für sie etwas Neues, das – auch wenn es eigentlich keine Rolle spielte – eine gewisse Neugier in ihr weckte. Dennoch musste sie nun gut auf sein Spiel eingehen und überzeugend agieren. Es war nur ganz kurz zu sehen, blieb ihr aber keineswegs verborgen. Dieser klitzekleine Moment voller Überraschung und Erleichterung, als sie ihm bestätigte, im Oktober geboren zu sein. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu lachen, aber das hätte alles ruiniert. Als sie dann auch noch den von ihm genannten Tag als den richtigen angab, erkannte sie deutlich seine Schwierigkeiten, die Contenance zu bewahren. Sie hätte natürlich jedes beliebige Datum als das korrekte bestätigt. „Wenn der wüsste, wann ich wirklich geboren bin.“, dachte sie während er sie an sich heranzog. Jetzt hing alles von den Blumen ab. Hoffentlich würden sie ihren Geruch übertünchen. Es funktionierte. Falls er es riechen sollte, reagierte er nicht darauf. Natürlich willigte er ein, mit ihr nachhause zu gehen. Morgen würde sie wieder die Stadt wechseln müssen, dachte sie, als sie ihm sein Blut aus der Kehle saugte und sein Fleisch verschlang. Vergangenes ließ die Lamia gerne schnell hinter sich.

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Lamia von Herbert James Draper (1909)

 

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