Fantastische Antike – Antikenrezeption in Science Fiction, Horror und Fantasy https://fantastischeantike.blog Antikenrezeption in Science Fiction, Horror und Fantasy Thu, 23 Aug 2018 17:39:53 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.com/ https://antikenrezeptionsciencefiction.files.wordpress.com/2017/12/cropped-cropped-bunt.jpg?w=32 Fantastische Antike – Antikenrezeption in Science Fiction, Horror und Fantasy https://fantastischeantike.blog 32 32 Lukian von Samosata (2. Jh. n.Chr.) – Der erste Science Fiction-Autor der Weltgeschichte? https://fantastischeantike.blog/2018/08/20/lukian-von-samosata-2-jh-n-chr-der-erste-science-fiction-autor-der-weltgeschichte/ https://fantastischeantike.blog/2018/08/20/lukian-von-samosata-2-jh-n-chr-der-erste-science-fiction-autor-der-weltgeschichte/#comments Mon, 20 Aug 2018 12:48:37 +0000 http://fantastischeantike.blog/?p=547 weiterlesen →]]> Wer sich für die Geschichte der Science Fiction interessiert, dürfte fast zwangsläufig schon einmal auf Lukian von Samosata gestoßen sein, den manche als den ersten uns bekannten Science Fiction-Autoren der Weltgeschichte betrachten, was jedoch sehr umstritten ist. Grund genug, sich an dieser Stelle ausführlicher mit Lukian und seinen Werken „Wahre Geschichten“ und „Ikaromenippos oder Die Luftreise“ zu beschäftigen.

Lukian war ein bedeutender griechischsprachiger Rhetor und Satiriker, der zwischen 115 und 125 n.Chr. im am Euphrat gelegenen Samosata (heutige Türkei) geboren wurde und um 190 n.Chr. verstarb. Nachdem er in Ionien – also der Westküste Kleinasiens – eine rhetorische Ausbildung genossen hatte, begab sich Lukian auf eine Wanderschaft, die ihn u.a. nach Griechenland, Gallien und Italien führen sollte. In späterer Zeit diente er dem Römischen Reich in der Verwaltung der Provinz Ägypten. Zu seinen literarischen Werken zählen rhetorische Schriften, größtenteils satirische Dialoge, Pamphlete (Schmähschriften) und schließlich erzählende Schriften.

Zur letzten Gruppe gehören die „Wahren Geschichten“ (Ἀληθῆ διηγήματα, lateinisch: Verae Historiae), auf die wir nun unseren Fokus legen wollen. Denn in den „Wahren Geschichten“ – oft wird der Titel auch im Singular als „Wahre Geschichte“ angegeben – berichtet Lukian von einer Weltraumreise, einem interstellaren Krieg zwischen außerirdischen Völkern, einer Entführung durch Außerirdische und der Kolonisation unbewohnter Gestirne, was man wohl für das 2. Jahrhundert n.Chr. als durchaus spektakulär bezeichnen kann. Im Folgenden versuche ich die „Wahren Geschichten“ so zusammenzufassen, dass die wesentlichen Elemente Erwähnung finden, es sich für die interessierte Leserschaft aber weiterhin lohnt, die Geschichte noch einmal bei Lukian selbst nachzulesen.

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Photo: Michael Kleu

Die Erzählung beginnt damit, dass Lukian mit einem Schiff von den Säulen des Herakles (Gibraltar) aus losgesegelt sei, um das Ende des Atlantiks zu entdecken und herauszufinden, was für Menschen auf der anderen Seite des Ozeans leben würden. Im Laufe der Reise erfasst ein Sturm das Schiff und hebt es in die Lüfte, sodass die Besatzung nach einigen Tagen den Mond erreicht. Schließlich wird die Reisegruppe auf dem Mond von Soldaten gefangengenommen, die auf riesigen, größtenteils dreiköpfigen Geiern reiten und die Fremden zu ihrem König führen, der ebenfalls ein Mensch von der Erde ist, der im Schlaf entführt und dann auf dem Mond zum Herrscher gemacht wurde. Schnell gelingt es dem Mondkönig, die Erdlinge davon zu überzeugen, ihn in seinem Krieg gegen die Bewohner der Sonne zu unterstützen. Denn als der Mondkönig den unbewohnten Morgenstern kolonisieren wollte, um seinen ärmsten Untertanen eine Existenz zu ermöglichen, hatte der Sonnenkönig mit seinen auf gewaltigen Flugameisen reitenden Soldaten eingegriffen und das Vorhaben vereitelt, das nun mit Gewalt in die Tat umgesetzt werden soll.

Es folgt eine ausführliche Beschreibung der Schlacht, die von ihrer Grundstruktur her den üblichen derartigen Darstellungen entspricht, wie wir sie aus den antiken Quellen kennen. So beginnt der Bericht mit der Schlachtaufstellung und einer kurzen Vorstellung der jeweiligen Alliierten, die wiederum von anderen Sternen stammen und auf riesigen Tieren oder beflügelten Gegenständen wie Eicheln reiten. Bei den Soldaten vom Hundsstern (Sirius) handelt es sich z.B. um Menschen mit Hundeköpfen, während von der Milchstraße u.a. beflügelte Zentauren von ungeheurer Größe kommen. Letztere nehmen Lukian und seine Gefährten schließlich gefangen und bringen sie auf die Sonne. Nachdem der Sonnenkönig eine Mauer errichten lässt, die das Sonnenlicht vom Mond fernhält, kommt es zu einem Friedensvertrag, der u.a. beinhaltet, dass auf dem Morgenstern eine gemeinsame Kolonie errichtet werden soll und dass alle Sterne autonom bleiben. Selbstverständlich wird gemäß griechischer Gepflogenheiten auch eine Inschrift wiedergegeben, auf der die Namen der Männer festgehalten werden, die den Vertrag ausgehandelt haben. Es folgen Beschreibungen der Bewohner des Mondes und weiterer Völker, bevor Lukian und seine Gefährten schließlich zur Erde zurückkehren, wo sie von einem gewaltigen Wal verschluckt werden und viele weitere abstrus-phantastische Abenteuer erleben.

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Photo: Michael Kleu

Im Dialog „Ikaromenippos oder Die Luftreise“ (Ἰκαρομένιππος ἢ Ὑπερνέφελος, lat. Icaromenippus) greift Lukian ebenfalls das Motiv der Weltraumreise auf. Hier erzählt ein Mann namens Menippos seinem Freund, dass er einem Geier und einem Adler jeweils einen Flügel abgeschnitten und sich selbst umgebunden habe, um die widersprüchlichen Theorien der Gelehrten zur Beschaffenheit des Weltalls zu überprüfen. So fliegt Menippos zum Mond, wo er den Naturwissenschaftler Emepdokles trifft, der sich in den Krater des Ätna gestürzt hatte und von dessen Rauch zum Erdtrabanten transportiert worden war. Auch lernt er die Mondgöttin Selene kennen – Gestirne sind in der Antike ja sowohl Himmelskörper als auch Göttinnen und Götter – , in deren Auftrag er zu einer Götterversammlung reist, wo ihm die Flügel abgenommen werden, damit er sich nicht erneut in die Lüfte erheben kann, bevor Hermes ihn schließlich zurück auf die Erde bringt. Wie sich zeigt, liefert der Dialog inhaltlich nichts Neues, sodass ich mich im Folgenden inhaltlich auf die „Wahren Geschichten“ konzentrieren werde. Interessant ist hingegen, dass Lukian in „Ikaromenippos oder Die Luftreise“ eine Beschreibung der Erde aus der Weltraumperspektive bietet, die verdeutlicht, wie unbedeutend die Reiche und Kriege der Menschen doch von oben betrachtet erscheinen.

Wie bereits eingangs angemerkt, berichtet Lukian in den „Wahren Geschichten“ von einer Reise in den Weltraum, von außerirdischen Völkern, von einem Krieg zwischen diesen, von der Kolonisation unbewohnter Himmelskörper und schließlich von der Entführung Schlafender durch Außerirdische, weshalb es mehr als verständlich ist, dass die „Wahren Geschichten“ manchen als die älteste erhaltene Science Fiction-Geschichte gelten. Weshalb sagen aber nun andere, dass es sich nicht um Science Fiction handle? Der entscheidende Punkt ist die Intention des Autors. Lukian hatte nicht vor, das zu schreiben, was wir heute als Science Fiction bezeichnen. Vielmehr ging es ihm darum, phantastische Reisegeschichten und Berichte über Wunder und Mythen zu parodieren, wie er in der Einleitung seines Werks klar hervorhebt. So gibt er auch offen zu, dass alles, was er sagt, frei erfunden und in Wahrheit natürlich unmöglich sei. Lukian ging es darum, auf vordergründig plausible Weise eine völlig abstruse Geschichte zu erzählen. Dabei greift er vieles auf, was er in antiken Sensationsgeschichten, aber auch bei renommierten Autoren wie Herodot, Thukydides oder Platon gelesen hat, und baut es – teilweise in noch einmal überspitzter Form – in seine eigene Erzählung ein. Und was böte sich aus antiker Sicht besseres an als eine Reise in den Weltraum, wenn man abstrus-phantastische Reiseberichte noch einmal satirisch überbieten möchte?

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Photo: Michael Kleu

Allerdings ist Lukian nicht der Erste, der sich eine Weltraumreise ausdachte. So hatte bereits Antonios Diogenes, der wohl im 2. Jh. n.Chr. lebte, in seinem Roman „Wunderdinge jenseits von Thule“ von einer Reise zu Sonne und Mond berichtet (Photios 111a), was Lukian möglicherweise zu seiner Erzählung inspiriert hat. Leider sind uns von diesem Roman nur ganz wenige Auszüge erhalten. Laut Lactantius (3,23,41) habe außerdem Seneca darauf verwiesen, dass sich manche Stoiker Gedanken darüber gemacht hätten, ob die Sonne bewohnt sei. Über den Mond stellten Philosophen ähnliche Gedanken an, wie aus Lukians „Ikaromenippos oder Die Luftreise“ hervorgeht. Die Grundidee eines bewohnten Weltraums und Reisen zu den Gestirnen hat es demnach bereits vor Lukian gegeben.

Fest steht jedenfalls, dass Lukian mit seinen „Wahren Geschichten“ und mit seiner „Luftreise“ eine satirische Lügengeschichte bzw. einen satirischen Dialog verfasst hat, die entsprechend vieler gängiger Definitionen nicht als Science Fiction zu bezeichnen sind. (Zur in diesem Blog verwendeten Definition von Science Fiction geht es hier.) Andererseits haben andere Expertinnen und Experten darauf verwiesen, dass es unerheblich sei, was sich Lukian bei der Niederschrift seiner Werke gedacht hat, da es sich aus der Perspektive einer heutigen Leserschaft dennoch um Science Fiction bzw. eine (unbewusst verfasste) Science Fiction-Parodie handle, da eben einige Elemente vorhanden sind, die wir eindeutig diesem Genre zuordnen würden. Somit ist die Frage alles andere als leicht zu beantworten, doch neige ich dazu, mehr Gewicht auf die Perspektive der heutigen Leserschaft als auf die Intention des Autors zu legen. Außer Frage steht, dass die „Wahren Geschichten“ eine wichtige Grundlage für spätere Werke gewesen sind, die wir heute eindeutig zur Science Fiction zählen. Zu nennen wäre da z.B. H.G. Wells „The First Men in the Moon“ von 1901.[1] Außerdem hat Lukians Kniff, die Protagonisten durch einen Wirbelsturm in eine Welt gelangen zu lassen, die auf normalem Weg nicht zu erreichen wäre, Schule gemacht: So wird bekanntlich auch Dorothy in Lyman Frank Baums „The Wonderful Wizard of Oz“ (1900) gemeinsam mit ihrem Hund Toto von einem Wirbelsturm nach Oz getragen.[2]

Ob Science Fiction, Proto-Science Fiction, Satire oder was auch immer: Lukian von Samosata ist aufgrund der Wirkungsgeschichte seines Werks nicht aus der Science Fiction wegzudenken und hat es sicherlich verdient, auch heute noch gelesen und geschätzt zu werden.

[1] Nesselrath geht in seinem Artikel „Lukian“ (s.u.) von Einflüssen Lukians auf Jules Verne, Edgar Allen Poe und H.G. Wells aus, die sich jedoch weniger direkt nachweisen ließen als die Einflüsse auf verschiedene Autoren des 16. bis 18. Jhs. Zu den Verbindungen zwischen den „Wahren Geschichten“ und H.G. Wells „The First Men in the Moon“ vgl. den Aufsatz von Antony Keen (s.u.).

[2] Vgl. hierzu die kurze Diskussion unter der Filmbesprechung von Flash Gordon in den Kommentaren auf der Filmlichtung.

Übersetzungen:

Ikaromenippos oder Die Luftreise

Wahre Geschichten

Quellenedition:

A.M. Harmon: Lucian in eight volumes, Bd. 1, London/Cambridge, MA. 1961.

Forschungsliteratur:

A. Keen: Mr. Lucian in Suburbia: Links between the True History and The First Men in the Moon, in: B.M. Rogers/B.E. Stevens (Hgg.): Classical Traditions in Science Fiction. Classical presences, Oxford/New York 2015, S. 105-120.

H.G. Nesselrath: Art. Lukian, in: DNP Suppl. 7: Die Rezeption der antiken Literatur (2010), 465-474.

H.G. Nesselrath: Art. Lukianos von Samosata, in: DNP 7: Die Rezeption der antiken Literatur (1999), 493-501.

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https://fantastischeantike.blog/2018/08/20/lukian-von-samosata-2-jh-n-chr-der-erste-science-fiction-autor-der-weltgeschichte/feed/ 4 20180801_164756 michaelkleu 20180801_164614.jpg Oz.jpg
Vom Gott des Todes zum Titanen des Terrors: Marvels Thanos und die griechische Mythologie. https://fantastischeantike.blog/2018/07/16/vom-gott-des-todes-zum-titanen-des-terrors-marvels-thanos-und-die-griechische-mythologie/ https://fantastischeantike.blog/2018/07/16/vom-gott-des-todes-zum-titanen-des-terrors-marvels-thanos-und-die-griechische-mythologie/#comments Mon, 16 Jul 2018 12:52:33 +0000 http://fantastischeantike.blog/?p=538 weiterlesen →]]> Vorbemerkung Michael Kleu: Mit Tim Korylec hat der Blog nun einen „Marvel-Beauftragten“, der sich durch die rezeptionsreichen Untiefen dieses Comic-Universums arbeiten wird und uns heute ein erstes Ergebnis präsentiert.

Zehn Jahre lang hat das Marvel Cinematic Universe (MCU) unterschwellig auf den großen Kampf dieses Charakters vorbereitet und in 18 Filmen durfte er seine Brotkrümel auslegen, ehe er in Avengers: Infinity War 2018 seinen bisher größten Handlungsstrang erhielt: Thanos, der Mad Titan des Marvel Universums. Ob Masterlord, Overmaster oder Thanos Rex; jeder dieser Übernamen gilt als literarische Beschreibung eines der bösesten und bedrohlichsten Schurken, die im Marvel-Verlag bisher erschienen sind. Seinen ersten Auftritt hatte der vom Saturnmond Titan stammende Thanos im Comicheft Iron Man #55 aus dem Jahr 1973. Nachdem Marvel in den darauffolgenden Jahren große Begeisterung für die Figur geerntet hatte, entschlossen sich die Thanos-Schöpfer Jim Starlin und Mike Friedrich 1990 dazu, ihm eine Origin-Story in der Ausgabe #37 des Silver Surfers zu verpassen.

Thanos stammt von den Eternals ab, einer unsterblichen menschlichen Rasse („Homo immortalis“) mit außergewöhnlichen Kräften. Im Laufe der Jahre spalteten sich die Eternals in zwei Fraktionen: Eine friedliebende Gemeinschaft angeführt von Thanos‘ Großvater Kronos und eine kriegerische Fraktion unter dem Kommando von Kronos‘ Bruder Uranos, der die Eternals nach einem langen Bürgerkrieg aufteilte und die Widersacher ins All verbannte. Viel deutlicher kann man Bezüge zur griechischen Mythologie, in der Kronos seinen Vater Uranos stürzte, um dann selbst von seinem Sohn Zeus besiegt zu werden, kaum einfließen lassen. Im Gegensatz zu seinem Bruder Eros (altgriechisch „Liebe“), der als Eternal zur Welt kam, wird Thanos jedenfalls mit dem Deviant Syndrom geboren, was ihn zu einer missgebildeten Form der Eternals macht. Er besitzt übermenschliche Intelligenz und Stärke, ist nahezu unverwundbar und kann Energie kontrollieren und manipulieren. Neben seinen übermenschlichen Fähigkeiten liebt er den Tod und das nicht nur im übertragenden Sinn: In seiner Jugend ist Thanos schwer verliebt in eine Frau, die er auf seinem Heimatmond Titan trifft. Er zerstört unzählige Welten, nur um sie zu beeindrucken. Die Frau entpuppt sich als die Figur Lady Death, die literarische Personifizierung des Todes; für sie sammelt er die Infinity-Steine, um ganze Galaxien auszulöschen.

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Photo: Tim Korylec

Während der heutige männliche Vorname Thanos auf die altgriechische Ausgabe des Athanasios (latinisiert Athanasius) zurückzuführen ist und „der Unsterbliche“ bedeutet, entstammt der Name der Comicfigur der griechischen Personifizierung des Todes, Thanatos. Dieser symbolisiert einen Daimon in der griechischen Mythologie, sein römisches Abbild ist Mors (oder auch Letus). In Hesiods Theogonie ist Thanatos der Sohn von Nyx, der griechischen Göttin der Nacht. Während sein Bruder Hypnos, Gott des Schlafes, seine Streifzüge über Erde und Meer unternimmt und als friedlich und freundlich beschrieben wird, hat Thanatos einen „erbarmungslosen Sinn“ und gibt einen Menschen nicht mehr frei. In Homers Ilias wird er als Gestalt mit schwarzen Flügeln und finsterem Blick dargestellt, der den Sterbenden immer eine Locke abschneidet.

Thanos ist demnach im Wesentlichen die Personifizierung eines „dunklen Gottes“, sowohl in den Comics als auch in den Film-Adaptionen. Er stammt von einer Rasse ab, die weitaus mächtiger und langlebiger ist als gewöhnliche Menschen, jedoch ist sein Ursprung nicht auf der Erde, obwohl er menschliche Züge besitzt. Er ist die literarische Symbolisierung eines höheren Wesens, das von genetisch modifizierten Menschen abstammt und aus dem Weltraum kommt. In der Marvel-Historie lässt sich dieses Muster bei mehreren Figuren nachweisen. Denn es ist ein immer wiederkehrendes Muster im Marvel-Universum, dass Göttergeschlechter, die wir aus der Menschheitsgeschichte kennen, im Comic als Außerirdische mit besonderen Kräften dargestellt werden, sodass die Asgardianer beispielsweise die nordischen Götter und die Olympier deren hellenisches Pendant symbolisieren. Sie alle haben leicht unterschiedliche Ursprünge und repräsentieren verschiedene Zivilisationen. In unserer Realität wurden sie von den Menschen als kaum greifbare Götter verehrt, im Marvel-Universum existieren sie tatsächlich.

Dem Mythos zufolge gab es nur zwei „Menschen“, die Thanatos überlisten konnten: Herakles – der natürlich ein Halbgott ist – im Ringkampf und Sisyphos durch eine List. In den Comics sind es Drax der Zerstörer und Adam Warlock, die Thanos letztendlich überwältigen. Es ist zudem kein Zufall, dass Thanos‘ Bruder in den Marvel-Comics Eros heißt: Sigmund Freud beschrieb in seiner Psychoanalyse Thanatos als Todestrieb und erweiterte die Vorstellung vom dialektischen Gegensatzpaar Thanatos-Eros, nachdem die Begriffe durch den österreichischen Psychoanalytiker Ernst Federn eingeführt worden waren. Nach dessen Theorien ist das menschliche Seelenleben von einem ständigen Liebes- und Todestrieb geprägt, die beide gleichsam versuchen sich einen Zutritt zum Bewusstsein zu verschaffen. Mit anderen Worten: In jedem Menschen steckt ein Thanos und ein Eros.

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Walkers et circenses – Gladiatorenspiele in „Die Tribute von Panem“, „Mad Max III“ und „The Walking Dead“ (Gastbeitrag von Holger Kellmeyer) https://fantastischeantike.blog/2018/07/14/walkers-et-circenses-gladiatorenspiele-in-die-tribute-von-panem-mad-max-iii-und-the-walking-dead-gastbeitrag-von-holger-kellmeyer/ https://fantastischeantike.blog/2018/07/14/walkers-et-circenses-gladiatorenspiele-in-die-tribute-von-panem-mad-max-iii-und-the-walking-dead-gastbeitrag-von-holger-kellmeyer/#comments Sat, 14 Jul 2018 09:42:32 +0000 http://fantastischeantike.blog/?p=531 weiterlesen →]]> Heute darf ich wieder einen Gastbeitrag eines fleißigen Lesers dieses Blogs vorstellen. So wird uns heute Holger Kellmeyer aus dem Odeon-Theater einen sehr spannenden Artikel zur Verwendung von Gladiatorenspielen in der Phantastik präsentieren, der am Ende wesentlich aktueller wird als man damals ahnen konnte, als Holger mir den Artikel zuschickt hatte. Ich werde die Ausführungen demnächst noch durch einen Beitrag zu einer Star Trek TOS-Episode ergänzen. Aber kommen wir nun endlich zu Holger Kellmeyer und den Gladiatoren:

Eine Frage der Ehre

Streng genommen müssen wir drei Spiele strenger voneinander unterscheiden. Die ludi circenses, die ludi scaenici und die ludi gladiatori: Die Rennen im Zirkus, die Theateraufführungen und schließlich die Gladiatorenkämpfe. Alle drei hatten ursprünglich eine tiefe, religiöse Bedeutung. Die Gladiatorenkämpfe waren eng verknüpft mit Bestattungsriten, gehörten also eigentlich in die Auseinandersetzung der Menschen mit dem Tod.

Die Ursprünge von mindestens zwei einander bekämpfenden Kriegern ohne eigentlichen, kriegerischen Sinn, sind in den Nekropolen von Paestum zu suchen, einer von den Griechen gegründeten Stadt, die gegen Ende des 5. Jhd. v. Chr. von den Lukanern erobert wurde. Auf etlichen, relativ gut erhaltenen Grabmalereien finden sich Darstellungen der athletischen Spiele, die zu Ehren der Bestatteten abgehalten wurden, in Anwesenheit eines scheinbar abseitsstehenden Dritten, eines Schiedsrichters? Das würde bedeuten, von Anfang an ging es bei den Gladiatorenkämpfen um eine an Regeln geknüpfte Zeremonie, die weit über die Idee eines Menschenopfers am Grab des Verstorbenen hinausgeht. Der lateinische Begriff, der am häufigsten für die Spiele verwendet wurde war „munus“ (Plural: „munera“). Das bedeutet zu Deutsch: „Ehrerbietung“, „Verpflichtung“.

Erst später wuchs aus dem Zweikampf ein gerichtliches Duell: Zwei eines Verbrechens beschuldigte Männer, die gegeneinander um das Gottesurteil kämpften.

Aber ursprünglich ging es um so viel mehr als nur um Schweiß und Blut und Spektakel. Einerseits wollte man vielleicht dem verstorbenen Verwandten den Übergang von der Welt der Lebenden ins Totenreich erleichtern und gleichzeitig konnte man die Gelegenheit nutzen, den eigenen Wohlstand zu demonstrieren. Und drittens: „Die Gladiatoren sollten im Rahmen der Leichenspiele in tapferen Zweikämpfen den Zuschauern die Tugenden vor Augen führen, die Rom groß gemacht hatten und für die der Verstorbene gestanden hatte: Kraft, Mut und Entschlossenheit. Eine Aufforderung insbesondere an die jungen Männer, dem Beispiel ihrer Vorfahren zu folgen.“ (Fik Mejer: Gladiatoren – Das Spiel um Leben und Tod; S. 24)

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Photo: Holger Kellmeyer

Eine Frage des Lebens

„Panem et circenses“. Der römische Dichter Juvenal brachte die späteren Gladiatorenspiele auf den Punkt. Gebt dem Volk Brot und Spiele, auf dass es beruhigt ist und auf dass es die politische Stimme dem größten und beeindruckendsten Spektakelsponsor gibt. Es gibt viele mehr oder wenig fundierte Legenden: etwa, dass das bei den Spielen getötete Vieh kostenlos dem „Pöbel“ gegeben wurde. Gebt ihnen Brot, dass sie nicht Hunger leiden und sie werden keinen Aufstand wagen. Etwa die immer opulenter werdenden Showeffekte, die das berühmte römische Kolosseum etwa in ein gigantisches Wasserbecken verwandelten, so dass man eine berühmte Seeschlacht nachspielen konnte: Gebt ihnen etwas zum Staunen, zum Alltag-Vergessen, auf dass sie sich nicht gegen ungerechte politische Entscheidungen des Cäsars auflehnen.

In „Die Tribute von Panem“ wird diese Idee in eine opulente Dystopie verwandelt: Die Bewohner des Kapitols sind das Ziel einer rigorosen Menschenjagd in einer Arena, so groß, dass man fast von einem Land reden könnte. Sie sind das Ziel insoweit, weil ihnen nicht langweilig werden darf. Katniss, die Protagonistin, die unfreiwillig zu einer Gladiatorin geworden ist, denkt im Laufe ihres Kampfes darüber nach, was wohl passieren würde, wenn ein Tag ohne einen spektakulären Todesfall verginge: „Den Zuschauern im Kapitol könnte langweilig werden, sie könnten auf die Idee kommen, die Spiele wären fad. Und das dürfen die Spiele auf keinen Fall werden.“ (S.195) Denn aus Langeweile käme höchstens eine Konzentration auf die politischen und gesellschaftlichen Zustände. Da diese frappierend sind, wäre eine Revolution nicht auszuschließen. „Die Arenen sind historische Orte“ in Panem. „Beliebte Ausflugs- und Urlaubsziele für die Bewohner des Kapitols. Bleiben Sie einen Monat, sehen Sie sich die Spiele noch einmal an, machen Sie eine Tour durch die Katakomben, besuchen Sie die Schauplätze des Todes! Sie können sogar an Wiederaufführungen teilnehmen. Das Essen soll hervorragend sein, heißt es!“ (S.163f.)

Und doch entsteht in der Romanwelt eine bizarre Dialektik dieser perfiden Macht. Zwölf Distrikte sind es nämlich, die hierarchisch gegliedert sind. Das Kapitol ist der reichste und mächtigste Distrikt, der zwölfte – ausgerechnet jener, von wo Katniss kommt – ist der ärmste, erbärmlichste Distrikt und damit gleichzeitig jener, der am wenigsten die Chance hat, die Spiele zu gewinnen, geschweige denn, sie überhaupt als „Spiele“ wahrzunehmen. Nein: gleichzeitig wird das große Spiel in der Arena, der Gladiatorenkampf gefeiert und gefürchtet. Man fiebert um den Gladiator aus seinem Distrikt, drückt ihm die Daumen, dass er überlebt und erfreut sich gleichzeitig an so viel Terror – im wahrsten Sinne des Wortes.

Die Spiele lösen unsagbar viel in den Gefühlen der Zuschauer aus: Schadenfreude über gewonnene Vorteile gegenüber den ‚Feinden’. Blutgier, das einen hoffen lässt, dass alles möglichst grausam und hinterhältig abläuft. Angst. Eine sadistische Empathie. Und alles gekrönt von einem ‚Schiedsrichter’, der die Spielregeln jederzeit so verändern kann, dass alles im Dienste des Gottes der Spannung weitergeführt wird: Man ist mit einem Wort spektakelgeil in dieser Welt. Aus höher, schneller, weiter, besser ist grausamer, wilder, roher, blutiger geworden.

Eine Perversion von Thomas Hobbes‘ Leviathan, jener Staatszustand, der für Stabilität sorgen soll, um eben jenen Zustand – den Naturzustand – zu vermeiden. In Panem erfindet das Kapitol den Naturzustand als Leviathan.

„Die dunklen Tage dürfen sich nie wiederholen“, heißt es immer wieder, ehe für die Gladiatoren die dunklen Tage beginnen und das Kapitol im grellsten Neonlicht erstrahlt.

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Photo: Holger Kellmeyer

Eine Frage des Todes

Die Gladiatorenspiele erfreuen sich einer großen Beliebtheit. Immer wieder taucht das Motiv in der Populärkultur auf. In Mad Max III (Beyond Thunderdome) war die Arena eine Donnerkuppel. Die Gladiatoren Vertreter zweier Machtblöcke: die Arbeiterklasse unter der Erde und die bizarre Fratze grundlegender Macht, gespielt von Tina Turner.

Bei Steven King – Verzeihung: Richard Bachmann – läuft der Countdown für einen Mann, der sich freiwillig zum Aussätzigen macht und vor laufender Kamera sowohl von professionellen Kopfjägern gejagt wird als auch von einer angeheizten Gesellschaft. Ein freiwilliger Gladiator mit kaum Überlebenschancen, weil es keine Arena mehr gibt, die die Welt vom Spektakel trennt: Das Publikum ist die Arena.

Und nun sehen wir, was die interessantesten Umsetzungen des Gladiatorenmotivs sind: jene, in denen die den Spielen zu Grunde liegenden Perversionen offen zu Tage treten. Das Grausame ist ja nicht, dass in einem sinnlosen und grundlosen Kampf Blut vergossen wird und zahllose Menschen sich daran erfreuen. Das Grausame ist der metaphysische Grund des Ganzen.

In „The Walking Dead“ wurde die Perversion dadurch dargestellt, indem tatsächlich wieder der Gladiatorenkampf auf seine Wurzeln zurückgeführt wurde. Die Arena war zweigeteilt: nämlich einmal ein tatsächliches Stadion, darin aber war ein kleiner Bewegungskreis durch an Ketten gehaltenen und im Kreis positionierten Walkers (i.e. Zombies) gestaltet. Erst in diesem kämpften zwei Menschen gegeneinander. Die Arena selbst ist also wieder einmal gefährlich, denn wenn man seinen Kampfplatz zu weit auskosten möchte, läuft man Gefahr, hinterrücks von dem untoten Arenapersonal gebissen und infiziert zu werden.

Schritt für Schritt können nach Belieben die Ketten etwas gelockert, der Kreis enger gezogen werden. Das entspricht den Schiedsrichterentscheidungen aus Panem.

Aber warum das Ganze? Warum sich schaulustig in einem Stadion der Realität aussetzen? Denn auch außerhalb des Stadions sieht die Welt nicht besser aus: ständig muss man gegen rivalisierende Menschen ums Überleben kämpfen. Mensch gegen Mensch herrscht hier wie dort. Und hier wie dort wird dieser Kampf gerahmt von gierigen Zombies.

Es ist, als würde der Initiator der Show – der einäugige Governor – nichts anderes tun, als die Große Welt im Kleinen wiederspiegeln.

Als ob man den Anfang von Goethes Faust – das Vorspiel auf dem Theater – absichtlich falsch verstanden hätte:

„Ich weiß, wie man den Geist des Volks versöhnt; / doch so verlegen bin ich nie gewesen: / Zwar sind sie an das Beste nicht gewöhnt, / allein sie haben schrecklich viel …“ gelesen heißt es bei Goethe; der Governor sagt „erlebt“, wenn er sich rechtfertigt.

Eine Protagonistin erklärt, solche Shows würden die Menschen das Falsche lehren: nämlich, dass Walkers ungefährlich sind. Durch das ständige vor Augen halten der Gefahr und der ewigen Katharsis, dass die menschlichen Helden überleben, durch das vorgaukeln, man habe die große Naturkatastrophe unter Kontrolle, signalisiere man, dass man beruhigt schlafen könne, wenn man nur dem Governor vertraue. Das Gladiatorenschauspiel als einlullende Maßnahme in einer sonst lebensbedrohenden Umwelt.

Es ist also hier sowohl ein Spiel zwischen Kontrolle und Ohnmacht als auch jenes zwischen Leben und Tod.

Die ursprüngliche Idee des Menschenopfers zur Demonstration der Tugenden der Toten gerät in ein neues Licht, wenn die Gladiatorenkämpfe im Schatten der Untoten stattfinden.

Dass zudem der Governor die Spiele manipuliert hat, indem er die Walkers ihrer Zähne beraubt hat und so selbst ein Biss nicht bedrohlich für die Menschen sein kann, legt eine zweite Kontrollebene über das Spiel.

Am Ende muss sich dann herausstellen, dass kein Gladiator – vor allem der Hauptkämpfer Oberbösewicht Merle – sich von der Show je hat täuschen oder einlullen lassen. Der Governor etabliert mit den Gladiatorenspielen das althergebrachte Zweiklassensystem: Die Macht liegt bei den Showrunnern, alle anderen sind Publikum. Im Mittellateinischen bedeutet dieses Wort: das gemeine Volk.

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Photo: Holger Kellmeyer

Eine Frage der Aktualität

Von Juvenal stammt das fabelhafte Wort: „Was die Frauen an den Gladiatoren lieben, ist das Schwert!“ Dieser Wortwitz geht nicht zu Deutsch. Tut mir leid. Was das lateinische Wort „piles“ für weitere Assoziationen hat, überlasse ich der Fantasie.

Es gab übrigens auch weibliche Gladiatoren. Insbesondere unter Nero soll es zu brutalen Kämpfen zwischen Frauen, sogar Kindern gekommen sein.

Soweit geht die Popkultur selten.

Soweit geht es auch heute nicht mehr in der Aktualität. Weibliche Gladiatoren lassen uns höchstens an Frauenboxen oder an Wrestling denken.

Gleichgeblieben ist, dass die Gladiatoren selbst selten frei waren. Sie hatten immerhin einen besseren Status als Sklaven. Sie waren berühmter. Und Berühmtheit kann auch Macht bedeuten.

Heute, in einer Zeit, in der kriegerische Tugenden kaum noch relevant sind, zählen die Tugenden von sportlichem Eifer oder dem Talent, einen Ball in ein gut bewachtes Tor zu manövrieren. Man mag erwidern, dass Sportler ja wohl keine Gladiatoren im herkömmlichen Sinn wäre. Der möge mir antworten, inwiefern ein Fußballer heutzutage frei genug ist, zu lieben wen er will – etwa auch homosexuell – oder sich politisch so zu äußern wie er möchte. Fußballer gelten auch heutzutage auf dem politischen Parkett als Ausnahmefälle. Sie sind nicht politisch aktiv, aber eine freie Meinung können sie allein deshalb nicht äußern, weil sie als Vorbilder für die Jugend gelten. An ihnen orientieren sich weiterhin die Tugendvorstellungen der Kinder. Und in einer Zeit, in der in einem Land verschiedene Kulturen nebeneinander eine Nationalmannschaft stellen können, weil das Land selbst kulturell durchmischt ist, prägt die Einstellung eines Nationalspielers durchaus die Tugenden der Heranwachsenden, die sich mit seiner Kultur identifizieren. Türkischstämmige Deutsche schauen voller Stolz auf türkischstämmige Spieler, italienischstämmige Deutsche auf italienischstämmige, und so fort.

Nur in einem gibt es tatsächlich eine demokratisierte Weiterentwicklung: den berühmten Daumen, der über Leben und Untergang des Gladiators entscheidet, reckt kein Cäsar mehr in die ein oder andere Richtung.

Das Volk reckt ihn.

Das Res Publikum.

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https://fantastischeantike.blog/2018/07/14/walkers-et-circenses-gladiatorenspiele-in-die-tribute-von-panem-mad-max-iii-und-the-walking-dead-gastbeitrag-von-holger-kellmeyer/feed/ 4 GladiatorenIII michaelkleu Gladiatoren I Gladiatoren II.jpg
Kronos (Kurzgeschichte von Talianna Schmidt) https://fantastischeantike.blog/2018/07/09/kronos-kurzgeschichte-von-talianna-schmidt/ https://fantastischeantike.blog/2018/07/09/kronos-kurzgeschichte-von-talianna-schmidt/#comments Mon, 09 Jul 2018 19:08:10 +0000 http://fantastischeantike.blog/?p=524 weiterlesen →]]> Talianna Schmidt vom The Highway Tales-Blog kennt sich sehr gut mit Werken der Phantastik aus, weshalb es nicht sehr überraschend ist, dass sie die mit Abstand fleißigste Kommentatorin meiner Beiträge ist. Es kommt aber noch hinzu, dass Talianna auch sehr schöne Geschichten schreiben kann, von denen ich Euch hier eine präsentieren darf, die thematisch hervorragend zu meinem Blog passt. Mit „Kronos“ eröffne ich somit die neue Rubrik „Fiktion“, in der in Zukunft weitere phantastische Geschichten mit Bezug zur Alten Geschichte veröffentlicht werden sollen. Es würde mich – und vermutlich auch Talianna – freuen, wenn Ihr unten in den Kommentaren Eure Eindrücke und ggf. Eure Interpretationen anfügen würdet. Kommen wir aber nun endlich zur eigentlichen Geschichte:

„Es hat begonnen. Am Strand haben sie sich versammelt, eine bunte Menge verschiedenster Gestalten, vereint im Grund ihrer Versammlung. In regelmäßiger Folge dröhnen die Schläge des gewaltigen Hammers, begleitet von Blitzen und Donner. Auf einem titanenhaften Amboss wächst es langsam, ein schmiedeeisernes Kreuz, dreimal mannshoch. Der Querbalken spannt sich drei Schritt breit, gestützt von einem eisernen Kreis um den Kreuzungspunkt herum. Weniger laut dröhnen die Schläge, als der hinkende Schmied nun feiner arbeitet, Ringe und Vertiefungen, auch eine kleine Plattform unterhalb des Kreuzungspunktes an das Metall schmiedet. Die Menge erschauert unter jedem dieser feineren Schläge, drängt sich näher an die Esse, umgeben von geschmolzenem und wiedererstarrtem Sand, wie dunkles, rauchiges Glas. Nun richtet er sich auf, wortlos nimmt er das schwere Kreuz und reicht es anderen. Leichte Schläge des Hammers auf dem Amboss begleiten das Schmieden von weiteren Ringen, während sie das Kreuz in die Brandung tragen, um es in den Sand zu rammen. Und wieder klingen kräftige Schläge, als sie das Kreuz aufrichten, tief hineinrammen, bis aus der Tiefe der Klang berstenden Gesteins zu hören ist, bis das Kreuz aufrecht selbst der anrennenden Schulter des wilden Mannes mit dem Dreizack trotzt.

Unruhe geht durch die Menge, als sie das Opfer aus dem Palmenhain heranzerren: Eine Frau mit Lanze und eine weitere mit Bogen, sie treiben eine geschundene Gestalt vor sich her. Zerrissen das Gewand, ein groteskes Bild aus Mieder, falschem Fleisch und geschundener echter Haut, kaum mehr ein Schatten eines Wesens, die gebrochenen Augen mit einem Tuch verbunden, so treiben sie das Opfer zur Schmiede. Der Schmied erwartet es bereits, nimmt die schmalen Arme in die groben, großen Hände und legt sie auf den Amboss, ein breiter Reif mit einem Ring wird um das Gelenk gelegt. Und dann saust er herab, der Hammer, noch bevor das heiße Eisen die Haut versengt, ist es bereits um das Gelenk geschlossen. Nur ein schwaches Zucken zeigt den Schmerz der geschundenen Gestalt, brennendheiße Eisen legen sich um seine Gelenke, jedes einzelne, und dann lässt der Schmied endlich seinen Hammer sinken. Sichtbar zerren die Eisen an der schwachen, abgemagerten Gestalt, die nun von Kriegerin und Jägerin weitergezerrt wird, zum Wasser hin. Durch die Brandung tragen sie das Opfer mehr als es selbst geht, und dann heben sie es an. Haken fahren in Ringe, und dann ist es vollbracht. Ein jämmerliches Konglomerat von falschem Fleisch, Kleidern und einem ausgemergelten Körper hängt am Kreuz, der Kopf auf die Brust gesackt. Betretenes Schweigen macht sich in der Menge breit, die am Strand die Kreuzigung verfolgt. Dann tritt einer davon vor, ein Nomade aus der Wüste, er tritt ins Wasser und unter das Kreuz, reckt seine Arme empor, seine Hände unter den Rock des gekreuzigten, hebt den Blick empor. Die Gestalt am Kreuz, sie zuckt in Agonie, als die Hände sich zu bewegen beginnen. Doch immer weiter bewegen sich die Hände des Nomaden, und immer heftiger zuckt die Gestalt am Kreuz. Doch dann tritt eine Gestalt mit einem Schwert hinzu. Zwei schnelle Streiche und armlos steht der Nomade, armlos fällt er in die Brandung. Ein weiterer Streich zerreißt den Rest des Gewands des Hängenden, ein letzter Streich, und etwas Blutiges stürzt aus dem Schoß des Gekreuzigten.

Noch lange harrt die Menge am Strand, noch lange wacht der mit dem Schwert über die hängende Leiche, bis der Schmied das leblose Fleisch vom Kreuze schlägt. Durch den blutigen Schaum der Brandung tragen sie den entmannten Körper in eine Höhle am Strand. Die Menge zerstreut sich langsam, als ein gewaltiger Fels vor den Eingang gerollt wird.

Zwei Tage sind vergangen. Ein wilder Sturm fegt über das Land und die Küste. Unter der Urgewalt der Brandung und des Windes ducket sich das Land, wie auch seine Bewohner – selbst der Schmied und der Kreuzigende mit dem Dreizack sind in ihren Heimstätten geblieben, dorthin getrieben von dem furchterregenden Unwetter. Die ganze Nacht wütet der Sturm an der Küste und hält den gesamten Landstrich in Atem, erst kurz vor dem Morgengrauen geht der prasselnde, vom Sturm getriebene Hagel in sanften, warmen Regen über und Blitz und Donner machen sanfteren Geräuschen Platz.

Die Kriegerin und die Jägerin brechen nun auf, um zum Strand zu gehen – und Opfer des Unwetters zu retten. Als sie den Strand erreichen, dämmert gerade die Morgenröte sanft herauf – und noch immer schwimmt blutiger Schaum auf den Wellen, die sich am Kreuz brechen, das Wasser ist wie von Perlmuttglanz überzogen. Zwischen den angetriebenen Fischleibern, zwischen all dem Treibgut und sogar ganzen Felsbrocken und Schiffswracks wird von den Wogen ein zarter, schlanker Körper immer weiter den Strand hinaufgetrieben. Langsam leckt das Meer, lecken die Wogen den roten Schaum von perlmuttglänzenden Hüften, einer schlanken Taille und vollen Brüsten, zerzausen rotbraunes, feuchtes Haar und spülen über gestreckte Beine hinweg. Die Jägerin und die Kriegerin eilen zu dem Körper hin, sehen den Atem des Mädchens und hüllen es rasch in ein Tuch, um die Angespülte zum Dorf zu tragen, während der rote Schaum nun endlich auf den Wogen zerfällt.

Hinter dem Palmenhain entringt sich dem Schmied ein entsetzter Schrei über dem leeren Grab in der vom Sturm ihres steinernen Siegels beraubten Höhle.“

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Botticelli: La nascita di Venere

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Roboter und der Zauber künstlicher Frauen von der Antike bis heute https://fantastischeantike.blog/2018/07/05/roboter-und-der-zauber-kuenstlicher-frauen-von-der-antike-bis-heute/ https://fantastischeantike.blog/2018/07/05/roboter-und-der-zauber-kuenstlicher-frauen-von-der-antike-bis-heute/#comments Thu, 05 Jul 2018 11:42:46 +0000 http://fantastischeantike.blog/?p=484 weiterlesen →]]> Da der heutige Beitrag etwas länger ausgefallen ist, habe ich ihn in fünf Bereiche unterteilt:
  1. Roboter, Androiden und Cyborgs
  2. Der Zauber künstlicher „Frauen“
  3. Künstliches „Leben“ in der antiken Überlieferung
  4. Statuen von überirdischer Schönheit
  5. Zusammenfassende Gedanken

1. Roboter, Androiden und Cyborgs

Roboter, Androiden und Cyborgs sind aus der Science Fiction nicht wegzudenken und erfreuen sich beim Publikum oft einer großen Beliebtheit, wie wohl am besten R2-D2 und C-3P0 aus Star Wars belegen. Zu den klassischen Robotern zählen etwa Robby aus „Forbidden Planet“ (Alarm im Weltall, 1956) oder Nummer 5 aus „Short Circuit 1 & 2“ (Nummer 5 lebt bzw. Nummer 5 gibt nicht auf, 1986 u. 1988). Viele von uns dürften außerdem mit Robbi aus der Augsburger Puppenkiste-Version von Boy Lornsens Kinderbuch „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“ (1967) aufgewachsen sein. Unvergessen bleibt natürlich auch Marvin, der depressive Roboter aus Douglas Adams‘ „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“.

In Bezug auf Androiden ( = menschenähnliche Roboter) sind Data aus Star Trek und Isaac Asimovs R. Daneel Olivaw als sehr populäre Vertreter zu nennen. Ein frühes Beispiel der Filmgeschichte wäre die Maschinen-Maria aus Fritz Langs „Metropolis“ von 1927. Jeder der vier Alien-Teile verfügt über Androiden in männlicher oder weiblicher Form und auch wenn die Alien-Prequels „Prometheus“ (2012) und „Alien: Convenant“ (2017) leider eher enttäuschten, zählt der von Michael Fassbender gespielte Android David sicherlich zu den Highlights der beiden Filme. Mit David wären wir dann auch schon bei den Androiden als Bösewichten angekommen, zu deren berühmtesten Vertretern wohl der T-800 und der T-1000 aus der Terminator-Reihe (1984ff.) oder die Zylonen aus den beiden Kampfstern Galactica-Serien (1978-1980 bzw. 2004-2009) zählen. Oft steht bei den Androiden die Frage nach ihrer Menschlichkeit im Vordergrund, was häufiger in Star Trek in Bezug auf Data und grundlegender noch in „A.I. – Artificial Intelligence“ (2001) sowie in Philip K. Dicks Roman „Do Androids Dream of Electric Sheep?“  bzw. der zugehörigen Verfilmungen „Blade Runner“ (1982) und „Blade Runner 2049“ (2017) thematisiert wird. Als prominentestes Beispiel der letzten Jahre ist diesbezüglich wohl Ava (Alicia Vikander) aus „Ex Machina“ (2015) zu nennen. Eine ähnliche Richtung schlagen auch die schwedische Serie „Äkta människor“ (Echte Menschen) bzw. ihr Remake „Humans“ ein.

Was Cyborgs angeht, also Mischwesen, die teils aus einem lebenden Organismus und teils aus Maschinen bestehen, sei an die Borg aus Star Trek, an die Robocop-Reihe (1987ff.) sowie an den Sechs-Millionen-Dollar-Mann (1974-1978) mit Lee Majors und die Sieben-Millionen-Dollar-Frau (1976-1978) mit Lindsay Wagner erinnert.

Bladerunner + Alarm im Weltraum

Photo: Michael Kleu

2. Der Zauber künstlicher „Frauen“

Bereits 1816 begegnen wir in der Erstveröffentlichung von E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ einer „Frau“ namens Olimpia, bei der es sich in Wahrheit um eine hölzerne Maschine handelt. Da der Protagonist Nathanael dieser Olimpia verfällt und darüber im buchstäblichen Sinne wahnsinnig wird, haben wir hier auch gleich ein erstes Beispiel für das populäre Motiv vorliegen, dass künstliche „Frauen“ bei Männern große Begierde auslösen können.[1] Ein Paradebeispiel hierfür ist sicherlich die von Tricia Helfer verkörperte Zylonin „Nummer 6“ aus Battlestar Galactica (2004-2009), die derart stark auf die Rolle der ebenso erotischen wie gefährlichen Verführerin ausgelegt war, dass es nicht überrascht, dass wenig später der US-amerikanische Playboy (02/2007) auf die Schauspielerin aufmerksam wurde und sie in der Science Fiction-Mini-Serie „Ascension“ (2014) erneut eine sehr sexuell ausgerichtete Rolle übernahm. In „Blade Runner“ (1982) spielt Daryl Hannah die Replikantin Pris, bei der es sich um ein sogenanntes „basic pleasure model“ handelt, das gezielt zur Erfüllung (männlicher) sexueller Wunschvorstellungen geschaffen wurde. Im mehrfach verfilmten Roman „The Stepford Wives“ (1972) zieht die Protagonistin in den Ort Stepford, in dem Männer mit auffällig unterwürfigen Frauen leben, die sich später als von ihnen geschaffene Roboter herausstellen. Etwas familienfreundlicher wird es, wenn Kelly LeBrock 1985 in der Fantasykomödie „L.I.S.A. – Der helle Wahnsinn“ (Weird Science) als am Computer erschaffene Traumfrau zwei schüchternen Teenagern zu ihren ersten Freundinnen verhilft.[2]

Doch stehen in anderen Fällen eher Gefühle als reine sexuelle Anziehung im Vordergrund. So verliebt sich Harrison Ford in „Blade Runner“ (1982) als Rick Deckard in die Replikantin Rachael (Sean Young), während sich in „Ex Machina“ (2015) der Programmierer Caleb zu der mit einem weiblichen Körper versehenen künstlichen Intelligenz Ava hingezogen fühlt. Ähnlich ergeht es Theodore Twombly (Joaquin Phoenix) in „Her“ (2013), wobei die von Scarlett Johansson gesprochene Künstliche Intelligenz (KI) Samantha, mit der Theodore eine Beziehung eingeht, bemerkenswerterweise körperlos bleibt. In Isaac Asimovs „Foundation“-Zyklus verliebt sich der Protagonist Harry Seldon in die Historikerin Dors Venabili, die sich später als Androidin entpuppt, was jedoch ohne Auswirkungen auf Seldons Gefühle ihr gegenüber bleibt. (Dors Venabili empfindet sich selbst übrigens als nicht sehr attraktiv. Ich kann mich nicht erinnern, wie Harry das sieht.)

Kleiner Exkurs: Was künstliche „Männer“ angeht, fallen mir nur die Beziehung zwischen Data und Tasha Yar (Star Trek TNG) sowie die „Black Mirror“-Folge „Be Right Back“ ein, in der eine Künstliche Intelligenz den verstorbenen Mann der Protagonistin nachahmt. Richtig wüst geht es hingegen in Paul Gillons Graphic Novel „Die Überlebende“ (1985-1991) zu, in der eine Frau die scheinbar einzige Überlebende einer weltweiten Katastrophe ist und u.a. heftige sexuelle Kontakte zu einem Roboter namens Ulysses (also Odysseus) pflegt.

Ilias.jpg

Photo: Michael Kleu

3. Künstliches „Leben“ in der antiken Überlieferung

Die ältesten Belege für künstliches „Leben“ stammen – zumindest auf die griechisch-römische Antike bezogen – bereits aus der „Ilias“, die vermutlich in die zweite Hälfte des 8. Jh. v.Chr. einzuordnen ist. Denn hier (18,372-379) heißt es über Hephaistos, den griechischen Gott des Feuers und der (Kunst-)Schmiede:

„Eifrig am Werk, denn Dreifüße schuf er, zwanzig im Ganzen, rings um die Wand sie zu stellen im wohlerbauten Gemache. Goldene Räder befestigte jedem er unten am Boden, daß sie von selbst liefen hinein in der Götter Versammlung, um dann wieder nach Haus zu kehren, ein Wunder zu schauen. Diese waren so weit vollendet, und nur noch die Ohren fehlten, die kunstvollen; diese bereitend schlug er die Bänder.“ (Übersetzung: Hampe)

Hephaistos hat an dieser Stelle also nichts Geringeres getan, als Dreifüße zu kreieren, die sich eigenständig bewegen können, wobei der Dichter der Ilias[3] hierfür das Adjektiv „automatos“ verwendet, wovon sich unsere Begriffe „automatisch“ und „Automat“ ableiten. Nur wenig später wird Hephaistos in der Ilias auch als Schöpfer künstlicher Frauen präsentiert (18,416-):

Humpelnd ging er zur Türe hinaus, und goldene Mägde stützten den Herrn von unten; sie glichen lebendigen Mädchen. Denn sie haben Verstand im Inneren und haben auch Stimme und auch Kraft und lernten von ewigen Göttern die Werke. Und sie keuchten als Stütze des Herrn, der humpelte aber hin, wo Thetis war […].“ (Übersetzung: Hampe)

Diese Stelle erscheint vielleicht noch bemerkenswerter als die vorherige, da die nun beschriebenen Geschöpfe wie Mädchen aussehen, über (künstliche) Intelligenz verfügen, sprechen können und von den Göttern gewisse Fertigkeiten erlernt haben. Erstaunlich ist auch, dass die Mädchen keuchen müssen, als sie den hinkenden Gott stützten, also wie Menschen Mühe empfinden können.

Aus der Mythologie kennen wir außerdem Talos, einen gewaltigen „Mann“ aus Bronze, der je nach Überlieferung ebenfalls von Hephaistos geschaffen wurde oder aber von einem „ehernen“ Geschlecht abstammte. Seine Aufgabe war es jedenfalls, dreimal täglich um Kreta herumzuziehen und die Insel vor Eindringlingen wie den Argonauten zu schützen. Außerdem soll Hephaistos noch für vielerlei weitere künstliche Wesen (Pferde, Adler, Hunde und Bullen) verantwortlich sein, die an dieser Stelle keine Berücksichtigung finden können, hier aber vollständig aufgelistet werden.[4]

Etwas spannender ist vielleicht sogar, dass solche Automata keineswegs nur in der Dichtung und im Mythos Erwähnung finden. So soll der pythagoräische Philosoph Archytas aus Tarent, der um das Jahr 400 v.Chr. lebte, eine hölzerne Taube entwickelt haben, die aufgrund einer innerhalb des Modells versteckten Vorrichtung, die an eine Art pneumatischen Antrieb erinnert, fliegen konnte, wie Aulus Gellius (10,12,8-10) überliefert. Und Polybios (12,13,12) berichtet davon, dass Demetrios von Phaleron 308 v.Chr. einer Prozession eine große künstliche Schnecke vorangeschickt habe, die sich aufgrund eines inneren Mechanismus von selbst bewegt und dabei sogar eine Schleimspur hinterlassen haben soll. Richtig spektakulär wird es dann bei der berühmten Prozession (um 270 v.Chr.) des Ptolemaios II. Philadelphos, der von 285-246 v.Chr. König des hellenistischen Ägyptens war. Denn in der pompösen Prozession wurde u.a. auch eine Statue der Nysa, der Amme des Gottes Dionysos, zur Schau gestellt. Die reich geschmückte Statue befand sich in sitzender Position auf einem Wagen, der von 60 Männern gezogen wurde. Mit Hilfe eines Mechanismus konnte sich die Statue erheben, um Milch aus einem goldenen Gefäß zu spenden und sich dann wieder hinsetzen (Athen. 5,198f.). Man könnte jetzt noch weitere Beispiele für antike Maschinen wie den beeindruckenden Mechanismus von Antikythera aufführen, doch möchte ich mich hier auf Maschinen konzentrieren, die im weitesten Sinne „Robotern“ entsprechen. Eine Auflistung anderer Maschinen findet sich u.a. in der Wikipedia, in der auch ein künstlicher Mann aus dem chinesischen Kulturkreis Erwähnung findet.

Statue

Photo: petivi (Vielen Dank!)

4. Statuen von überirdischer Schönheit

Kommen wir zurück zu künstlichen „Frauen“. Wie wir anhand meiner obigen Aufzählung gesehen haben, hat die Phantastik offensichtlich großen Gefallen daran, „weibliche“ Roboter und Künstliche Intelligenzen zum Zentrum männlicher Begierde oder sogar Liebe zu machen. Etwas Ähnliches habe ich in den antiken Quellen zwar nicht in Bezug auf Maschinen in Frauengestalt finden können, doch gibt es zwei bemerkenswerte Geschichten, die sich um weibliche Körper repräsentierende Statuen drehen.

Beginnen wir mit dem Bildhauer Pygmalion, der laut Ovid (Metamorphosen 10,243-297) auf Zypern lebte und sein Leben lang Junggeselle geblieben war, da ihm Frauen zu verdorben erschienen. Eines Tages hatte er aus Elfenbein die Statue einer Frau geschaffen, die so unglaublich schön und realistisch aussah, dass sich der Künstler in sein Werk verliebte und kaum noch glauben konnte, dass die Frau nicht echt war. So liebkoste er sie, sprach mit ihr, machte ihr Geschenke und legte sie sogar in sein Bett. Zum Fest der Aphrodite bat Pygmalion die Göttin um Hilfe, woraufhin sich Aphrodite seiner erbarmte und die Statue lebendig werden ließ, sodass der Bildhauer und seine nun lebendige Frau bereits neun Monate später Eltern einer Tochter wurden.

Ganz anders endete die Geschichte eines weiteren Mannes. Denn der Bildhauer Praxiteles (etwa 390 bis 320 v.Chr.) hatte für den Aphrodite-Tempel in Knidos eine Statue der Liebesgöttin geschaffen, die zu den Meisterwerken dieses bedeutenden Künstlers gezählt haben soll. Die Marmorstatue stellte die Göttin nackt und in sitzender oder gebeugter Position dar, wobei sie mit einer Hand ihren Schambereich bedeckte. Laut einer Geschichte, die mit den Schriften des Lukian überliefert wurde, aber wohl nicht von diesem Autoren stammt (Ps.-Lukian, Amores 13-17), zeigte sich der Besucher Charikles so begeistert von der Darstellung, dass er die Statue mit Küssen überhäufte und sie dann mit Tränen in den Augen wie versteinert ansah. Selbst der Athener Kallikratidas, der den Tempel gemeinsam mit Charikles besuchte und den eher junge Männer ansprachen, zeigte sich von der Kehrseite der Dame entzückt. Schließlich entdeckten die Männer eine Stelle am Schenkel der Statue, der sie an einen Fleck auf einem Kleid erinnerte, woraufhin ihnen eine Tempeldienerin den Ursprung dieser Stelle erklärte. So habe es einst einen jungen Mann aus angesehener Familie gegeben, der derart in Liebe zum Abbild der Göttin verfallen sei, dass er den ganzen Tag im Tempel verbracht und auf die Statue gestarrt habe, wobei er sich scheinbar mit dem Kunstwerk zu unterhalten glaubte. Abgesehen von einigen weiteren Dingen habe sich der junge Mann eines Tages im Tempel versteckt, um eine Nacht mit der Göttin verbringen zu können. Was in dieser Nacht genau geschah, wird nicht erläutert, doch sei die besondere Stelle am Schenkel aus dieser Nacht hervorgegangen. (Scheinbar wurde die Statue „befleckt“.) Der unglückliche junge Mann habe sich jedenfalls aufgrund der unerfüllten Liebe ins Meer gestürzt, was Charikles zu den folgenden Worten bewogen haben soll: „Selbst wenn sie aus Stein geschaffen sind, können Frauen also Liebe entbrennen lassen. Was wäre aber geschehen, wenn wir eine solche Schönheit lebendig und atmend erblickt hätten? Wäre eine einzige Nacht mit ihr nicht ebenso viel wert wie das Szepter des Zeus?“ (Übersetzung Kleu)

356px-Cnidus_Aphrodite_Altemps_Inv8619_n3Römische Kopie der Aphrodite von Knidos. Im Original sind nur der Torso und die Oberschenkel erhalten, während Kopf, Arme, Beine und das stützende Gewand ergänzt wurden Photo: © Marie-Lan Nguyen / Wikimedia Commons / CC-BY 2.5

In der ersten Geschichte wendet sich Pygmalion also von den Frauen ab, da diese ihm zu verdorben erscheinen. So schafft er sich eben – wenn auch völlig unbewusst – eine optisch perfekte Frau, deren Sittsamkeit den Ansprüchen des Bildhauers zu entsprechen scheint. Jedenfalls erzählt Ovid von den schüchternen Reaktionen der Frau in der ersten (richtigen) Liebesnacht. Auf den ersten Blick geht dies ein bisschen in Richtung von „The Stepford Wives“, wo sich eine Gruppe von Männern „weibliche“ Androiden zu Frauen nehmen, die sie nach ihren Vorstellungen geschaffen haben. (Auch Olimpia aus „Der Sandmann“ entspricht in mancherlei Hinsicht einer solchen Stepford-Frau, was übrigens auch ein bisschen an einen Brief (ep. 4,19) erinnert, in dem Plinius lobend seine Frau beschreibt.) Wichtig ist aber, dass Pygmalion Frauen eigentlich aus dem Weg gehen möchte und sich deshalb auf seine Arbeit konzentriert, wodurch er eben vollkommen unbeabsichtigt zu seiner Traumfrau kommt, die dann von Aphrodite zum Leben erweckt wird, da der Bildhauer eben echte Gefühle für sein Kunstwerk entwickelt hat, sodass man ihm keinerlei negative Intention nachsagen kann. Wenn man also nach einer Moral in der Geschichte suchen möchte, könnte man vielleicht sagen: „Der Liebe kann man nicht entrinnen“ (oder so ähnlich). Nichtsdestotrotz haben wir hier eine Geschichte vorliegen, die sich völlig um den Mann dreht und bei der der Frau eher ein Objektcharakter zukommt.

Die unbekleidete Aphrodite von Knidos hingegen ist auf den ersten Blick ein Objekt, das den begehrenden Blicken der Männer ausgeliefert ist. Tatsächlich geht aber aus der Beschreibung Ovids deutlich hervor, dass die Statue die sie betrachtenden Männer aktiv in ihren Bann zieht, wodurch sie letztlich vom Objekt zu einem Subjekt wird, das eine gewisse Gewalt über ihre Betrachter ausübt und diese im Radikalfall in den Wahnsinn treiben kann.[5] Natürlich dürfte dies damit zusammenhängen, dass die Statue ein Ebenbild der Göttin Aphrodite ist, in deren Tempel sie sich ja auch befindet.

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Römische Kopie der Aphrodite von Knidos. Im Original sind nur der Torso und die Oberschenkel erhalten, während Kopf, Arme, Beine und das stützende Gewand ergänzt wurden Photo: © Marie-Lan Nguyen / Wikimedia Commons / CC-BY 2.5

5. Zusammenfassende Gedanken

In der Ilias und in der Mythologie kommen den künstlichen Wesen jeweils konkrete Aufgaben zu, auch wenn bei den Dreifüßen offenbleiben muss, für was genau sie nützlich sind. Auf die historische Zeit bezogen hatten die aufgezählten Maschinen (Taube, Schnecke, Nysa) hingegen eindeutig repräsentativen Charakter und sollten das jeweilige Publikum beeindrucken. Ein praktischer Nutzen dürfte sich aus ihnen eher weniger ergeben haben. Die Science Fiction knüpft hier in der Regel an Dichtung und Mythos an, da sowohl der klassische Roboter als auch der Androide als Helfer der Menschen gedacht sind, was auch auf Künstliche Intelligenz zutrifft. Bei den Cyborgs, für die ich kein konkretes antikes Pendant gefunden habe,[6] sind es dann ihre künstlichen Bestandteile, die die eigentliche Lebensform optimieren sollen und in manchen Fällen überhaupt erst deren Überleben gewährleisten. In der Science Fiction hat künstliches Leben meist also einen klaren Nutzen, wobei es kompliziert wird, wenn sich plötzlich die Frage nach der Menschlichkeit der künstlichen Helfer stellt, da dies schließlich die problematischen Themenfelder Sklaverei und Unterdrückung eröffnet. In der Antike hingegen dürfte es gerade mit den reichlich zur Verfügung stehenden Sklaven zusammengehangen haben, dass scheinbar kaum jemand auf die Idee gekommen ist, Maschinen zu erfinden, um körperliche Arbeit zu erleichtern, obwohl dies offenbar möglich gewesen wäre.

Wie wir gesehen haben, ist man in der Phantastik schon zu Beginn des 19. Jh. auf die Idee gekommen, künstliche „Frauen“ und diese begehrende Männer zu erfinden. Obwohl bereits in der „Ilias“ mechanische Wesen von weiblicher Gestalt erwähnt werden, ist mir keine Stelle in den antiken Quellen bekannt, in der diese Grundidee in einem romantischen oder erotischen Sinne ausgeschmückt würde. Stattdessen finden wir dies „nur“ in Bezug auf zwei unbelebte, dafür aber überirdisch schön anmutende Statuen, was vielleicht auch damit zusammenhängen mag, dass es in der griechisch-römischen Mythologie so viele potentielle Liebhaberinnen und Liebhaber für Menschen gab (Götter, Nymphen, Tiere etc.), dass man wie schon bei der Arbeitskraft auch diesbezüglich womöglich gar keinen Bedarf danach hatte, auf Maschinen zurückzugreifen.

Und wer nun Spaß am heute behandelten Thema gefunden hat, kann sich schon einmal auf den folgenden Film freuen, der demnächst erscheinen wird und dessen Titel nun auch niemanden mehr überraschen dürfte:

Automata

[1] Zwei Jahre später verlangt das einsame Monster aus Mary Shelleys „Frankenstein“ (1818) von seinem Schöpfer, ihm ein weibliches Pendant zu erschaffen, wozu es jedoch nicht kommt.

[2] In den oben genannten Fällen bezieht sich die von den künstlichen „Frauen“ ausgelöste Begierde zunächst auf männliche Charaktere innerhalb der phantastischen Werke. Besonders beim Medium Film soll aber natürlich besonders der männliche Zuschauer angesprochen werden, weshalb künstliche „Frauen“ in der Regel weit überdurchschnittlich attraktiv dargestellt werden, auch wenn sie innerhalb der Erzählung nicht zwingend als femme fatale o.ä. auftreten. So ist es wohl kein Zufall, dass „Star Trek Voyager“ (1995-2001) wieder mehr Zuschauerzuspruch erhielt, sobald sich die von den Borg gerettete Seven of Nine (Jeri Ryan) der Crew angeschlossen hatte. Selbst die von verschiedenen Schauspielerinnen verkörperte Borg-Queen wird gelegentlich ein wenig sexy dargestellt. Und dass eine weitere Zylonin aus „Battlestar Galactica“ von der sehr populären Xena-Darstellerin Lucy Lawless verkörpert wurde, dürfte den Einschaltquoten dieser Serie sicherlich ebenfalls nicht geschadet haben. Auch die sich in einem künstlichen Körper befindende Motoko Kusanagi wird in sämtlichen Versionen von „Ghost in the Shell“ als optisch sehr ansprechend dargestellt, zuletzt 2017 von Scarlett Johannson. Als Künstlische Intelligenz trat Monica Belluci in „Matrix Reloaded“ und „Matrix Revolutions“ (beide 2003) auf, wobei man wohl sagen darf, dass hier nicht zuletzt das Aussehen der Schauspielerin im Vordergrund gestanden haben dürfte. Würde man Frau-Alien-Mischungen einbeziehen, träfe auch hier zu, dass diese gerne betont attraktiv dargestellt werden, wie etwa Zef und Xef Bellringer (Eva Habermann, Xenia Seeberg) aus „Lexx – The Dark Zone“ (1997) oder Sil (Natasha Henstridge) aus „Species“ (1995) belegen. Nun muss man natürlich sagen, dass bei Filmen und Serien grundsätzlich vieles von der Attraktivität der Schauspielerinnen und Schauspieler abhängt, doch scheinen mir (teil-)künstliche Frauen fast ausnahmslos weit überdurchschnittlich attraktiv dargestellt zu sein, was vermutlich in einem Zusammenhang mit der grundsätzlichen Optimierung steht, mit der künstliches Leben verbunden ist.

[3] Es ist nicht ganz sicher, ob die Person, die wir als Homer kennen, wirklich gelebt hat. Womöglich stammen die Werke, die Homer zugerechnet werden, alle oder zum Teil von anderen Autoren. Aufgrund dieser Ungewissheiten spricht man gelegentlich allgemein vom Dichter der Ilias, wer auch immer es gewesen sein mag.

[4] Dan Simmons fügt diesen Umstand auf sehr schöne Weise in seine Romane „Ilium“ und „Olympos“ ein. Denn wenn die homerischen Helden dort mit Cyborgs konfrontiert werden, hält sich ihre Verwunderung in Grenzen, da sie ja wissen, dass der Gott Hephaistos diverse ähnliche Wesen geschaffen hat.

[5] Vgl. hierzu auch die entsprechenden Gedanken von Classicsgirl.

[6] In der antiken Mythologie gibt es stattdessen unzählige Mischwesen (Kentauren, Minotauros etc.). Erst durch Aufklärung, Industrialisierung usw. kamen allmählich Mensch-Maschinen-Mischwesen auf.

Literatur (insofern nicht bereits im Text verlinkt):

A. Schürmann: Automaten, in: DNP 2 (1997), 357-360.

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https://fantastischeantike.blog/2018/07/05/roboter-und-der-zauber-kuenstlicher-frauen-von-der-antike-bis-heute/feed/ 9 Statue michaelkleu Bladerunner + Alarm im Weltraum Ilias.jpg 356px-Cnidus_Aphrodite_Altemps_Inv8619_n3 Cnidus_Aphrodite_Altemps_Inv8619
Über den Tellerrand geblickt – „The Middle Ages in Children’s Literature“ von Clare Bradford (Buchvorstellung) https://fantastischeantike.blog/2018/05/30/ueber-den-tellerrand-geblickt-the-middle-ages-in-childrens-literature-von-clare-bradford-buchvorstellung/ https://fantastischeantike.blog/2018/05/30/ueber-den-tellerrand-geblickt-the-middle-ages-in-childrens-literature-von-clare-bradford-buchvorstellung/#comments Wed, 30 May 2018 11:04:15 +0000 http://fantastischeantike.blog/?p=450 weiterlesen →]]> Wie kürzlich schon einmal in Bezug auf die Keltenrezeption angemerkt, schadet es wohl nicht, gelegentlich einen Blick über den Tellerrand der Alten Geschichte hinaus zu werfen. Daher möchte ich mir heute ansehen, wie die Kolleginnen und Kollegen aus dem Mittelalter vorgehen, wenn sie die Rezeption der Mittelalterlichen Geschichte untersuchen. Diesbezüglich wurde mir Clare Bradfords „The Middle Ages in Children’s Literature“ empfohlen, da sich die Autorin auch einige Gedanken zur Methodik mache, woran es ja oft ein wenig mangelt.

Kommen wir zunächst zur Autorin selbst. Clare Bradford hat an den Universitäten Auckland, Wellington und Sidney studiert und an der letztgenannten Institution 1978 promoviert, bevor sie 5 Jahre später am selben Ort noch einen Master of Education anhängte (!). Leider wird in ihren öffentlich zugänglichen Lebensläufen nicht angegeben, was sie genau studiert hat, doch erwähnt sie auf ihrem Academia-Profil, dass sie ursprünglich Mediävistin gewesen sei, bevor sie ihren Arbeitsschwerpunkt auf Kinderliteratur verlegt habe. Heute ist sie emeritierte Professorin der School of Communication and Creative Arts an der Deakin University. Neben der Kinderliteratur zählen der Postkolonialismus und der Medievalismus – also die Mittelalterrezeption – zu ihren Forschungsinteressen.

Middleages

Photo: Michael Kleu

Zu Beginn des Buches stellt Bradford zunächst einmal etwas fest, was auf die Antike in der Phantastik übertragen letztlich auch die Grundlage des vorliegenden Blogs ist: die Kinderliteratur ist voller Mittelalterrezeption. Dabei betont sie, dass „Mittelalter“, „mittelalterlich“ etc. alles recht ungenaue Begrifflichkeiten sind, die je nach Kontext unterschiedlich aufgefasst werden können, sodass in Anlehnung an Kathleen Davies und Nadia Altschul beim Mittelalter eher von einer von Zeitumständen abhängigen Idee als von einer konkreten Einheit auszugehen sei. Jedenfalls datiert Bradford das Mittelalter entsprechend des klassischen Musters grob vom 5. bis zum 15 Jh., wobei sie daran erinnert, dass die Aufteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit keine natürliche ist, sondern aus der Perspektive von Renaissance und Aufklärung erfolgte. Damit zeigt sich auch schon das nächste Problem des Begriffs, werden unter „Mittelalter“ doch 1.000 Jahre mit ihren jeweils eigenen sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen zusammengefasst. (Man könnte hier noch auf geographische Unterschiede hinweisen, was Bradford jedoch nicht tut.) In ihrer Untersuchung möchte sie jedenfalls Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters untersuchen, wobei sie sich auf an Kinder adressierte Texte (u.a. auch Fantasy-Werke und Comics) konzentriert, die nach dem Mittelalter entstanden sind und gelegentlich zwar nicht viel mit dem historischen Mittelalter gemein haben, aber dennoch einige Einblicke in das Verhältnis zwischen Mittelalter und Moderne bieten können. Dabei möchte sie zeigen, dass das Mittelalter keineswegs vergangen, sondern noch sehr präsent ist.

Daher geht Bradford davon aus, dass Texte mit Bezug zum Mittelalter weniger über das eigentliche Mittelalter aussagen als vielmehr über die Kultur und die Zeit, in der sie entstanden sind. (Ähnlich verhält es sich ja auch beim Historienfilm.) Dabei betont sie am Beispiel der gothic fiction (Schauerliteratur) bzw. der gothic novel (Schauerroman) auch ein Problem, dass sich ebenso in Bezug auf die Antikenrezeption häufiger zeigt: Die Literatur des 18. Jh. platzierte ihre Schauererzählungen gerne im „finsteren“ Mittelalter. Da diese Erzählungen in der Folge stilprägend wurden, hat sich im Genre eben eine Idee des Mittelalters festgesetzt, die aus dem 18. Jh. stammt und die sich laut Bradford z.B. bei „Interview with the Vampire“ oder „Buffy the Vampire Slayer“ feststellen lässt, wobei jede erneute Übernahme zwangsläufig wieder Elemente der eigenen Kultur und der eigenen Zeit einfließen lässt. (Auf die Antike bezogen liegt etwas Ähnliches vor, wenn Shakespeare sich z.B. durch Plutarch inspirieren lässt und dann seinerseits spätere Kulturschaffende inspiriert usw.) Mit diesem Aspekt ist auch ein weiterer Punkt verbunden: Jede Übersetzung eines mittelalterlichen (oder antiken) Texts ist immer eine von den zeitlichen und kulturellen Lebensbedingungen der Übersetzenden abhängige Interpretation, die das Original in Nuancen verändern kann. Wenn Kulturschaffende also z.B. eine Übersetzung aus dem frühen 20. Jh. nutzen, übernehmen sie fast zwangsläufig diese Abweichungen vom Original, wobei sie auch ihrerseits wieder das Gelesene auf Basis ihrer eigenen Lebenserfahrungen interpretieren und somit womöglich wieder verändern. Daher ist eine Beschäftigung mit dem Mittelalter (oder der Antike) immer abhängig von der Lebenswelt der Personen, die diese Beschäftigung ausüben. (Vgl. zum Problem der Übersetzung die derzeitige Diskussion um Emily Wilson, die als erste Frau Homers Odyssee ins Englische übertragen hat und dabei wohl mit ein paar eigentümlichen Entscheidungen ihrer ausnahmslos männlichen Vorgänger aufräumte.)

Im weiteren Verlauf geht Bradford ein wenig auf Kinderliteratur und Medievalism Studies – also der Mittelalterrezeption als wissenschaftliche Fachrichtung – ein, wobei sie in diesem Kontext mit Recht die Ansicht ablehnt, dass die Medievalism Studies nur ein minderwertigerer Ableger der Mittelalterlichen Geschichte seien. Sympathischer Weise macht sie in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass Mediävisten genauso wenig unmittelbar auf das Mittelalter zurückgreifen können wie Vertreterinnen und Vertreter der Medievalism Studies und dass hier wie dort die interpretativen und analytischen Ansätze von persönlichen Geschmäckern und Vorlieben sowie von (inter-)disziplinären Methoden abhängen. Letztlich kann ja auch die Mittelalterliche Geschichte lediglich versuchen, das Mittelalter zu rekonstruieren. Hier sieht Bradford einige Ähnlichkeiten zur Kinderliteratur als wissenschaftlichem Forschungsfeld, da auch die wissenschaftliche Betrachtung der Kinderliteratur wie die Medievalism Studies in den 1970er Jahren aufgekommen seien und innerhalb der Literaturwissenschaften ebenfalls häufig eher stiefkindlich behandelt würden. Außerdem werde beiden Wissenschaften eine gewisse Unernsthaftigkeit und Leichtgewichtigkeit vorgeworfen, was von Bradford überzeugend widerlegt wird. Als Unterschied zwischen Kinderliteraturwissenschaft und Medievalism Studies hält sie schließlich fest, dass Erstere sich mit den sozialisierenden und pädagogischen Zielen der Kinderliteratur auseinandersetze, während sich Letztere darauf konzentriere, wie Mittelalterbezüge der modernen Leserschaft die mittelalterliche Vergangenheit präsentiere und erkläre.

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Photo: Michael Kleu

Im nächsten Unterkapitel der Einleitung geht es darum, dass Kinderliteratur häufig den ersten Kontakt eines Menschen mit dem Mittelalter darstellt, wofür dann auch ein paar berühmte Beispiele aufgezählt werden, für die dies belegt ist, wie etwa Ernest Hemingway oder John Steinbeck, die beide durch die Artussage und weitere mittelalterlichen Erzählungen geprägt gewesen seien. Dennoch finde die Kinderliteratur erst allmählich Einzug in die Medievalism Studies. In der Kinderliteraturwissenschaft konzentriere man sich hingegen sehr auf die Frage nach der Authentizität des dargestellten Mittelalters, was vermutlich damit zusammenhänge, dass wegen des Erstkontakts der Kinder mit dem Mittelalter aus Sicht einiger Forscherinnen und Forscher diesbezüglich alles seine Richtigkeit haben müsse, um keine falschen Grundlagen zu legen. Dieser Anspruch würde dann auch auf die Fantasy übertragen, die ja gerne auf Elemente des Mittelalters zurückgreift. Es folgen Überlegungen zu dem Umstand, dass aus der Wissenschaft stammenden Autorinnen und Autoren wie J.R.R. Tolkien allgemein aufgrund ihrer Profession eine besondere Autorität beigemessen werde, während auch andere Kulturschaffende besonders dafür gelobt würden, wenn ihre Darstellungen besonders authentisch seien. All dem steht Bradford etwas skeptisch gegenüber, schon allein aufgrund der schwer zu beantwortenden Frage, wie denn das „richtige“ Mittelalter aussehen müsse (s.o.).

Im letzten Teil der Einleitung stellt Bradford einige spannende Überlegungen dazu an, dass Kindheit und Mittelalter beide als unvollendete Vorstufen zu etwas darauf Folgendem wahrgenommen werden, bevor sie grob zusammenfasst, wie das Mittelalter in der Kinderliteratur verwendet werde: einerseits als romantisierende vorindustrielle und vortechnische Welt, deren Bewohnerinnen und Bewohner einfache und gesunde Leben führen; andererseits als primitive Zeiten oder Plätze, voll von Dreck, Armut, Krankheit und Aberglauben. In diese „mittelalterlichen“ Welten würden dann häufig moderne Probleme projiziert, wobei die so vollzogene Entfremdung womöglich dazu beitrage, Sachverhalte mit einer gewissen Distanz aus einer anderen Perspektive beurteilen zu können. So reflektieren Geschichten über den Kreuzzug die aktuellen Beziehungen zwischen Muslimen und Christen, während gerne auch Fragen nach Geschlechterrollen etc. aufgegriffen werden.

Somit geht es Bradford in ihrer Untersuchung nicht darum, zu bewerten, wie richtig oder falsch „das“ Mittelalter in der Kinderliteratur dargestellt wird. Vielmehr möchte sie die literarischen und kulturellen Funktionen der Mittelalterrezeption untersuchen, indem sie herausarbeitet, inwiefern mit Hilfe des Mittelalters Werte und Tugenden vertreten, positive wie negative Modelle menschlichen Verhaltens präsentiert und Spekulationen über zukünftige Welten durchgeführt werden.

Die Empfehlung, einen Blick in dieses Buch zu werfen, kann ich nur als eine äußerst gute Anregung bezeichnen, da Bradfords Studie tatsächlich mit methodischen Überlegungen versehen ist, die mich in meinen eigenen Studien von der Methodik her ein ganzes Stück weitergebracht haben. Dabei gefällt mir besonders die Argumentation gegen eine herablassende Behandlung der Rezeptionsgeschichte als „minderwertige“ Wissenschaft. Richtig spannend ist auch der oben kurz angesprochene Hinweis darauf, dass Kinderliteratur bzw. hinsichtlich meiner Studien die Phantastik für die Rezipierenden tatsächlich den ersten (und womöglich auch einzigen?) Kontakt mit Antike oder Mittelalter darstellen können.

Bei mir selbst waren es ganz klar die Odysseus-Verfilmung mit Kirk Douglas („Ulisse“, Italien 1954), verschiedene Monumentalwerke („Die 10 Gebote“, „Quo Vadis?“, „Ben Hur“ etc.) sowie diverse Sandalenfilme, deren Titel ich hier aus Reputationsgründen verschweige und in denen definitiv weder Herkules noch Atlantis vorkamen, die mich als Kind zur Alten Geschichte geführt haben. Auch Stanley Kubricks „Spartacus“ (1960) hat mich sehr geprägt, womit wir wieder bei Kirk Douglas wären, der mir auch in „Die Wikinger“ (1958) großartig gefallen hat, wobei ihn in beiden Rollen Tony Curtis zur Seite stand. Wenn ich mir überlege, welche Auswirkungen diese gesunde Mischung aus Meisterwerken und „Schundfilmen“ auf mich hatte, kann der Vermittlung der Geschichte durch Kinder- und Jugendbücher wohl kaum genug Aufmerksamkeit gewidmet werden, um zum Abschluss wieder die Kurve zu Clare Bradford zu bekommen.

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Mythos und Phantastik: Frank Weinreichs Einführung in die Fantasy (Buchvorstellung) https://fantastischeantike.blog/2018/05/19/mythos-und-phantastik-frank-weinreichs-einfuehrung-in-die-fantasy-buchvorstellung/ https://fantastischeantike.blog/2018/05/19/mythos-und-phantastik-frank-weinreichs-einfuehrung-in-die-fantasy-buchvorstellung/#comments Sat, 19 May 2018 18:26:09 +0000 http://fantastischeantike.blog/?p=427 weiterlesen →]]> Heute kommen wir mal wieder zu einer Buchvorstellung. Da ich bemüht bin, meine Untersuchungen mit etwas mehr Theorie zu untermauern, interessiere ich mich derzeitig u.a. für Genre-Definitionen. Beginnen wir daher also mit einer Einführung in die Fantasy aus dem Oldib-Verlag, dessen Veröffentlichungen zur Phantastik mir grundsätzlich sehr spannend erscheinen.

Frank Weinreich, der Autor des hier zu besprechenden Buchs, hat als Vortragender im Mai 2015 an meiner kleinen Tagung zur Antikenrezeption in der Science Fiction teilgenommen und dort einen sehr wichtigen Beitrag geleistet, den Interessierte bald auch im Sammelband zur Tagung nachlesen können. Weinreich ist ein gelernter Krankenpfleger, der im Anschluss an die Ausbildung Kommunikationswissenschaften, Philosophie und Politikwissenschaften studiert hat. Nach der Promotion in Philosophie hat er die Universität verlassen und arbeitet heute als freier Lektor und Übersetzer. Von ihm stammen zahlreiche Untersuchungen zu den Werken J.R.R. Tolkiens. Auch ist er als Mitherausgeber verschiedener Publikationen aus diesem Themenbereich tätig. Auf polyoinos.de (poly oinos = viel Wein => Weinreich) findet ihr noch viele weitere spannende Informationen über ihn.

Was sagt Weinreich aber nun in seiner Einführung in die Fantasy? Zunächst einmal stellt er in der Einleitung (S. 9-16) fest, dass sich die Anzahl thematisch übergreifender theoretischer und interpretierender Untersuchungen zur Fantasy umgekehrt proportional verhalte zur großen Bedeutung, die diesem Genre mittlerweile in der Populärkultur zukommt. Besonders die Frage, weshalb Fantasy eine solche Vielzahl von Menschen unterschiedlichster Art anzusprechen versteht, scheint ihm bisher in der Forschung eher vernachlässigt worden zu sein, weshalb er nun Funktion und Bedeutung der Fantasy ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken möchte. In diesem Rahmen werden der viel diskutierte Begriff „Fantasy“ neu definiert, das Verhältnis zwischen Fantasy und Mythos beleuchtet und Entwicklungsgeschichte und Persönlichkeiten der Fantasy vorgestellt, bevor im letzten Teil des Buches mit J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“, Ursula Le Guins „Erdsee“ und Dennis L. McKiernans „Mithgar“-Zyklus drei Werke der Fantasy besprochen werden, die in Bezug auf Inhalt und Wirkungsgeschichte zu den bedeutendsten Vertretern des Genres zählen.

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Photo: Michael Kleu

Das zweite Kapitel (S. 17-42) widmet sich also der Definition von Fantasy und der Bedeutung des Genres für seine Rezipientinnen und Rezipienten. Nach Weinreich zählen alle fiktionalen Erzählungen[1] zur Fantasy, die einen übernatürlichen Aspekt beinhalten, wobei in der Regel charakteristisch sei, dass es Heldinnen und Helden gibt und die Geschichte in einer imaginären Welt spielt,[2] in der Magie etwas ganz Reales ist. Wichtig ist Weinreich darüber hinaus, dass diese Erzählungen keinen Wahrheitsanspruch erheben dürfen, um zur Fantasy zu zählen (s.u.). Auch vertritt Weinreich die These, dass Erzählungen mit übernatürlichen Bestandteilen derart populär seien, weil sie etwas in der Psyche der Menschen ansprächen, das sich nach Metaphysik und den Erfahrungshorizont überschreitenden Erklärungsmustern sehne.

Kapitel 3 (S. 43-61) behandelt im Anschluss daran den Mythos, ohne den Weinreich sich keine Phantastik und somit auch keine Fantasy vorstellen kann,[3] da die Fantasy letztlich auf dem mythischen Denken beruhe. Denn der Logos (Vernunft, Verstand) könne zwar die Welt im Rahmen der jeweiligen Erkenntnisfähigkeit erklären, doch weder einen höheren Sinn vermitteln oder gar trösten, was daher dem Mythos bzw. in heutiger Zeit der Fantasy zufalle. Der Unterschied zwischen Mythos und Fantasy liege hauptsächlich darin, dass allen Rezipientinnen und Rezipienten bewusst ist, dass phantastische Erzählungen erfunden sind, während man in vergangenen Zeiten den Mythos durchaus als Wahrheit auffassen bzw. an ihn glauben konnte. Dabei gefällt mir der Gedanke besonders gut, dass der Mensch bzw. seine Psyche gleichermaßen auf Logos und Mythos angewiesen sei, beide also letztlich einander ergänzen.

Im vierten Kapitel (S. 63-99) geht es um Geschichte, Entwicklung, Persönlichkeiten und Spielarten von Fantasy. Hier stellt Weinreich zunächst Vorläufer, Inspirationen und Quellen der Fantasy vor, bevor er darauf aufbauend die moderne Fantasy behandelt, die er im 19. Jh. mit den Werken von William Morris beginnen lässt. Zu den Quellen und Vorläufern der Fantasy zählt er aus dem Bereich der hier relevanten Fachrichtungen (Altorientalistik, Ägyptologie, Alte Geschichte) als Beispiele die „Geschichte des gestrandeten Seefahrers“, das „Gilgamesch-Epos“ (beide etwa 2.000 v.Chr.), die homerischen Epen (etwa 8. Jh. ), die Fabeln Aisops (wohl 6 Jh. v.Chr.), Vergils „Aenaeis“ (1. Jh. v.Chr.), Ovids „Metamorphosen“ (zwischen 1 und 8 n.Chr.) und Lucius Apuleius‘ „Der goldene Esel“ (2. Jh. n.Chr.) auf. Da der Schwerpunkt dieses Kapitels aus historischen Gründen zwangsläufig auf Literatur liegt, folgt außerdem noch eine separate Betrachtung von Kunst, Musik, Film und Spiel. Deutlich wird hier, dass die imaginären Welten der Fantasy in einem untrennbaren Verhältnis zur realen Welt stehen und daher auch durchaus als Kommentar verstanden werden dürfen, womit sich eine weitere Parallele zum Mythos zeigt.

Mit Hilfe der drei oben genannten Beispiele der Fantasyliteratur (Tolkien, Le Guin, McKiernan) demonstriert Kapitel 5 (S. 101-121) schließlich, weshalb viele Werke des Genres wesentlich mehr darstellen als bloße Unterhaltung, auch wenn letzte letztlich natürlich aus gutem Grund immer im Vordergrund steht, wie auch im Schlusswort (S. 120f.) noch einmal betont wird.

Insgesamt betrachtet handelt es sich um ein sehr gelungenes Buch, das den Leserinnen und Lesern einen schönen Einstieg ins Themengebiet „Fantasy“ bietet. Dabei gefällt mir besonders, dass Weinreich über den literaturtheoretischen Ansatz, der maßgeblich von Tzvetan Todorov geprägt wurde, hinausgeht und auch inhaltliche Aspekte sowie die metaphysischen Bedürfnisse der Rezipientinnen und Rezipienten in seine Überlegungen einfließen lässt. Hinsichtlich der Antikenrezeption in Science Fiction, Horror und Fantasy scheint mir besonders die enge Verbindung zwischen dem Mythos und der Fantasy von Bedeutung zu sein, sodass wir sicherlich noch häufiger auf Weinreichs diesbezügliche Überlegungen zurückkommen werden.

[1] Mit dem Begriff Erzählungen sind z.B. literarische Werke, Filme und Serien, Musik, Kunst inklusive Comics sowie Computer-, Brett- und Rollenspiele gemeint.

[2] Diese imaginäre Welt kann dabei durchaus vorgeben, in unserer Vergangenheit zu liegen (vgl. z.B. Robert E. Howards „Conan der Barbar“), oder teilidentisch mit unserer Welt sein (vgl. z.B. die „Harry Potter“-Reihe)

[3] Neben Horror und Science Fiction zählt auch die Fantasy zu den Untergattungen der Phantastik. Der Begriff Phantastik erweist sich jedoch als ebenso umstritten wie der der Fantasy, was ich an anderer Stelle etwas ausführlicher beleuchte.

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Antikenrezeption in den Tiefen der Ozeane – Die Nektons [The Deep] (Gastbeitrag) https://fantastischeantike.blog/2018/05/16/antikenrezeption-in-den-tiefen-der-ozeane-die-nektons-the-deep-gastbeitrag/ https://fantastischeantike.blog/2018/05/16/antikenrezeption-in-den-tiefen-der-ozeane-die-nektons-the-deep-gastbeitrag/#comments Wed, 16 May 2018 11:08:03 +0000 http://fantastischeantike.blog/?p=419 weiterlesen →]]> Heute widmen wir uns im zweiten Gastbeitrag auf diesem Blog einer Geschichte, auf die ich erst durch Elizabeth Hales sehr interessanten Blog Antipodean Odyssey – Explorations in Children’s Culture and Classical Antiquity aufmerksam geworden bin. Da die Autorin selbst in ihrem weiter unten folgenden Beitrag in inhaltlicher Hinsicht alles Notwendige über das Comic und die zugehörige TV-Serie sagt, möchte ich diesbezüglich nicht viel ergänzen, außer dass „The Deep“ in Deutschland unter dem Titel „Die Nektons – Abenteurer der Tiefe“ bekannt ist.

Konzentrieren wir uns daher auf die Autorin selbst. Dr. Elizabeth Hale stammt aus Neuseeland und hat zunächst an der Universität Otago Englische Literatur und Latein studiert, bevor sie mit einem Fulbright-Stipendium in die USA an die Brandeis University ging, wo sie ein MA-Studium in Englischer und Amerikanischer Literatur absolvierte und schließlich auch eine Doktorarbeit verfasste. Heute arbeitet sie als Senior Lecturer an der University of New England (UNE) in Australien. In ihrer Forschung und Lehre konzentriert sie sich auf Kinderliteratur und Kindermedien, Fantasy-Literatur, kreatives Schreiben und die Literatur des 19. Jahrhunderts. Außerdem leitet Elizabeth Hale den australischen Teil des in Warschau ansässigen und von der EU geförderten Our Mythical Childhood-Projekts, das sich mit der Frage beschäftigt, wie Kinder- und Jugendliteratur Informationen über die klassische Antike vermittelt, und das ebenfalls auf einem spannenden Blog Präsenz zeigt.

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Photo: Michael Kleu (Comics from Gratis Comic Tag 2018)

Am 30.01.2018 veröffentlichte Elizabeth Hale auf ihrem Blog den folgenden Beitrag, den sie mir freundlicherweise zur Verfügung stellte, um ihn an dieser Stelle auch einem deutschsprachigen Publikum vorzustellen. Wie sie mir mitteilte, wird sie sich zukünftig noch ausführlicher mit „The Deep“ befassen. Man darf also gespannt sein. [Zum Originalbeitrag geht es hier.]

„Some of the best children’s products are those that entrance adults too, and I am not ashamed to say that I fell, hook line and sinker, for The Deep, an animated adventure series about a family of underwater explorers.

The Deep began life as a graphic novel, by Melbourne writer Tom Taylor and Brisbane artist James Brouwer, and published by Perth comics publisher, Gestalt.  It concerns the Nektons, a family of aquanauts who explore the oceans in their amazing submarine, the Arronax.  [Anmerkung Michael Kleu: Das U-Boot ist offensichtlich nach Prof. Aronnax benannt, dem Protagonisten aus Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“.] As they journey, they encounter mythical beasts and creatures, usually (but not always) finding a scientific explanation. They also have some very cool gadgets, including the ‘knights,’ elaborate ‘extra-vehicular activity suits’ which enable them to do some serious discovery work.

At the heart of the story is the Nektons’ possible connection to a lost ancient civilisation, called Lemuria (similar to Atlantis). And in its adaptation for TV by an international collaboration between Australia and Canada, this story  runs delightfully through episodes. It’s got it all, in fact: a good-hearted set of heroes, including the boy wonder, Antaeus (named for the son of Gaia and Poseidon) and his best friend Jeffrey, a tropical fish with a mysterious past; his sarcastic older sister Fontaine and her possible love-interest, the piratical Finn; and a pair of scientist parents, Will and Kaiko.

The name Nekton comes from a scientific term for the ‘aggregate of actively swimming aquatic organisms in a body of water.’  It turns out the Nekton family, who are all magnificent swimmers, are also descendants of the Lemurians. Together with some mysterious guardians, named after Greek and Roman sea gods (Tethys, Glaucus, Proteus), they search for the lost continent.  As they do, the find mysterious underwater temples, disappearing islands, ancient shipwrecks, and a curious labyrinth in which lurks a pair of seahorse-like Minotaurs.

[…]. The Deep was a surprise to me because of its elegant interweaving of mythical and scientific matters, in a wholesome show for children that is engrossing for adult viewers too.  It’s also absolutely gorgeous to look at.

If you like underwater scenery, beautifully realised, with myth, monsters, and more, then take the time to watch The Deep.  There are 2 series already airing, with a third in the works, and I hope there’ll be many more . . .“

 — Elizabeth Hale
[Zum Originalbeitrag auf Elizabeth Hales Blog geht es hier.]

 The Deep Trailer

 

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Wunder, Geister und „Proto-Vampire“ – Antike Sensationsgeschichten von Phlegon von Tralleis (1./2. Jh. n.Chr.) https://fantastischeantike.blog/2018/05/14/wunder-geister-und-proto-vampire-antike-sensationsgeschichten-von-phlegon-von-tralleis-1-2-jh-n-chr/ https://fantastischeantike.blog/2018/05/14/wunder-geister-und-proto-vampire-antike-sensationsgeschichten-von-phlegon-von-tralleis-1-2-jh-n-chr/#comments Mon, 14 May 2018 21:41:41 +0000 http://fantastischeantike.blog/?p=412 weiterlesen →]]> Phlegon stammte aus einer kleinasiatischen Stadt namens Tralleis (heute Aydin) und lebte im 1. und 2. Jh. nach Christus, wobei wir aufgrund seiner Schriften wissen, dass er nicht vor 137 n.Chr. gestorben sein kann. Phlegon war ein gebildeter Sklave, der vom Kaiser Hadrian (117-138 n.Chr.) gekauft und später freigelassen worden war. Womöglich war Publius Aelius Phlegon, wie er nach seiner Freilassung mit vollständigem Namen hieß, sogar als Hofschriftsteller für Hadrian tätig.[1]

Als Autor beschäftigte sich Phlegon mit vielerlei sehr unterschiedlichen Thematiken. So verfasste er u.a. Werke über Geschichte, Olympiasieger, römische Feiertage oder die Insel Sizilien. Für unsere Zwecke ist aber wohl interessanter, dass Phlegon auch sehr gerne über ungewöhnliche Dinge wie z.B. besonders langlebige Menschen oder wundersame Sensationsgeschichten schrieb. Letztere sind im „Buch der Wunder“ zusammengetragen, das uns größtenteils erhalten ist und mit dem wir uns im Folgenden ausführlicher beschäftigen wollen. Als Edition nutze ich dabei die unten angegebene Übersetzung von Kai Brodersen, von dessen Einleitung ich auch die Überschrift für diesen Artikel entliehen habe.

Auch wenn die Versuchung groß ist, Phlegons Geschichten an dieser Stelle ausführlich wiederzugeben, bemühe ich mich, dies nur in wenigen Fällen zu tun und ansonsten lediglich die Phänomene als solche aufzulisten, um die geneigte Leserschaft dazu zu ermuntern, Phlegons Text selbst zur Hand zu nehmen, den Ihr bestimmt in der ein oder anderen örtlichen (Universitäts)-Bibliothek finden könnt.

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Photo: Michael Kleu

Wovon handeln Phlegons Geschichten also? Eine der längeren Erzählungen berichtet von einer jungen Frau aus Amphipolis, die Philinnion hieß und etwas weniger als 6 Monate nach ihrem Tod Nacht für Nacht zur selben Uhrzeit einen jungen Mann aufsucht, der im Haus ihrer Eltern zu Gast ist und ihr Begehren geweckt hat. Als die Eltern der jungen Frau ihre Tochter eines Nachts bei einem ihrer Besuche überraschen, stirbt sie nach einer kurzen Unterhaltung erneut. Nachdem sich das Geschehen in der Stadt herumgesprochen hat, öffnet man das Grab der Verstorbenen, in der sich keine Gebeine der jungen Frau finden lassen, dafür aber Geschenke, die sie von ihrem jungen Geliebten bei ihren nächtlichen Besuchen erhalten hat. Auf Anraten eines Sehers werden verschiedene religiöse Handlungen durchgeführt, bevor die Leiche außerhalb der Stadtmauern verbrannt wird, woraufhin der Geliebte dem Wahnsinn verfällt und sich schließlich selbst tötet. Wie Brodersen wohl mit Recht anmerkt, handelt es sich bei dieser Erzählung, die in der Mitte des 4. Jh. v.Chr. angesiedelt ist, um nichts Geringeres als die älteste uns bekannte Gespenstergeschichte im literarischen Sinne (S. 10).

Eine weitere Erzählung berichtet von einem hohen Politiker des Aitolischen Bundes, der kurz nach seiner Hochzeitsnacht verstirbt. Als seine Frau 9 Monate später einen Hermaphroditen gebiert, also ein Kind mit sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechtsorganen, ist die Aufregung groß und man überlegt in der Volksversammlung u.a., Frau und Kind außer Landes zu bringen und dort zu verbrennen. Da erscheint der Geist des Verstorbenen in der Versammlung und verkündet, im Auftrag der Götter der Unterwelt zu den Lebenden zurückgekehrt zu sein. Wenn man ihm das Kind friedlich übergebe, werde dies großen Schaden vom Volk abwenden. Wenn man dem Kind hingegen etwas antäte, würde großes Unheil geschehen. Die Versammlung will sich nicht zügig genug darauf einlassen, woraufhin der Geist das Kind zerreißt und bis auf den Kopf verschlingt, bevor er sich in Luft auflöst. Der Kopf des Kindes spricht schließlich eine Prophezeiung aus, die sich ein Jahr später bewahrheiten wird.

Eine dritte Geistergeschichte ist mit der Schlacht bei den Thermopylen 191 v.Chr. zwischen Antiochos III. (dem Großen) und den Römern verbunden, in deren Folge einer der Gefallenen aufersteht und Prophezeiungen kundgibt, die wiederum zu weiteren Prophezeiungen führen, die sich letztlich bewahrheiten.

Es folgen mehrere größtenteils wesentlich kürzere Geschichten, die sich mit den Themengebieten Geschlechterwechsel und Androgynität befassen. Andere Erzählungen behandeln Riesen, die jedoch nie in lebendiger Form auftreten, sondern deren Gebeine und Zähne nach Erdbeben oder bei Baumaßnahmen gefunden werden, was vielleicht an Dinosaurierknochen o.ä. denken lässt. Von den Riesen geht es zu Monstergeburten, die z.B. Kinder mit mehreren Köpfen thematisieren. Auch schwangere Männer finden sich ebenso in Phlegons Werk wie Frauen, die ungeheure Zahlen an Kindern gebären. Die Aufzählungen enden schließlich mit Menschen, die ungewöhnlich schnell erwachsen wurden, und mit Wunderwesen.

Spannend ist, dass Phlegon bei vielen seiner „Berichte“ ganz konkrete Quellen und Zeitangaben liefert, wobei gelegentlich auch bekannte antike Persönlichkeiten in einen Bezug zur Geschichte gebracht werden, wodurch dem Ganzen ein besonderer Anstrich von Authentizität verliehen wird. Gleichzeitig deuten die Quellenangaben aber wohl darauf hin, dass Phlegon sich die Erzählungen nicht ausgedacht, sondern vielmehr eine Sammlung bereits vorhandener Geschichten erstellt hat.

Nun haben wir von Geistern gehört und auch von vielerlei anderen wundersamen Dingen. Was hat dies aber jetzt mit den in der Überschrift angekündigten Vampiren zu tun? Die Geschichte der jungen Philinnion, die jede Nacht den Gast im Haus ihrer Eltern aufsuchte, wurde 1666 von Johannes Praetorius (Hans Schultze) aufgegriffen, bevor Johann Wolfgang von Goethe dasselbe 1797 in seinem Gedicht „Die Braut von Korinth“ tat, in dem die Verstorbene dann mit vampirischen Zügen versehen ist. 1824 ließ sich auch Washington Irving von Philinnion inspirieren, als er „The Adventure of the German Student“ schrieb, was Brodersen als Neubegründung der Geistergeschichte in der Literatur des 19. Jh. bezeichnet (S. 11). Dementsprechend liegt hier ein schöner Fall von gut nachvollziehbarer Antikenrezeption vor. Genaugenommen haben wir also bei Phlegon noch gar keine Vampire, sondern lediglich eine Vorlage für Goethes „Vampirin“, wobei aber die nächtliche Verführung durch die Untote zumindest schon einmal in die noch heute gängige Richtung weist. Deshalb habe ich das Aufmerksamkeit erheischende Wort zwar im Titel belassen, aber in Anführungszeichen gesetzt und mit dem Präfix „proto“ versehen.

Manche der hier geschilderten Geistergeschichten sowie verschiedene weitere finden sich übrigens in einem Platon-Kommentar des Proklos (5. Jh. n.Chr.), den ich mir bei Gelegenheit auch einmal ansehen sollte.

[1] Mit der Freilassung übernahmen Sklaven bestimmte Namensbestandteile derjenigen, die sie freigelassen hatten. Da Hadrian mit vollem Namen Publius Aelius Hadrianus hieß, gingen das Praenomen (Vorname) und das Nomen gentile (Familienname) auf seine Freigelassenen über, deren ursprüngliche Rufnamen dann zum Cognomen wurden. Etwas ausführlicher wird dies hier erklärt.

Literatur:

K. Brodersen (Hg.): Phlegon von Tralleis. Das Buch der Wunder. Antike Sensationsgeschichten, Darmstadt 2001.

P.L. Schmidt: Art. Phlegon, in: DNP 9 (2000), 906.

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Weshalb die Japaner die griechische Antike mögen – Antikenrezeption in Anime und Manga (Gastbeitrag) https://fantastischeantike.blog/2018/05/09/weshalb-die-japaner-die-griechische-antike-moegen-antikenrezeption-in-anime-und-manga-gastbeitrag/ https://fantastischeantike.blog/2018/05/09/weshalb-die-japaner-die-griechische-antike-moegen-antikenrezeption-in-anime-und-manga-gastbeitrag/#comments Wed, 09 May 2018 17:45:03 +0000 http://fantastischeantike.blog/?p=381 weiterlesen →]]> Bisher habe ich mich auf diesem Blog primär mit Medien beschäftigt, die im weitesten Sinne dem sogenannten westlichen Kulturkreis zuzurechnen sind und bei denen Antikenbezüge dementsprechend nicht sehr überraschend sind, da die antike Welt eben als eine Grundlage dessen gilt, was wir als westliche Zivilisation bezeichnen. Wie verhält sich dies aber bei anderen Kulturkreisen? Weshalb greifen z.B. japanische Kulturschaffende auf „unsere“ Antike zurück? Werden Elemente der Antike durch Literatur, Hollywood, Computerspiele etc. nach Japan vermittelt, während gleichzeitig Aspekte der japanischen Kultur auf ähnlichem Weg den Westen erreichen? Das ist sicherlich aus vielerlei Hinsicht zutreffend, doch ist der Fall gerade in Bezug auf Japan wesentlich spannender als man spontan meinen sollte, da die Japaner die Antike – besonders die griechische Antike – auf eine Weise vermittelt bekommen haben, die mir bisher vollkommen unbekannt war.

Daher freue ich mich heute den ersten Gastbeitrag auf diesem Blog begrüßen zu dürfen, der sich mit genau dieser Thematik beschäftigt. Der Artikel ist zusammengesetzt aus zwei Texten, die Markus von meinekritiken.com im Oktober und November 2017 veröffentlicht hat und die er mir freundlicherweise auf Nachfrage zur Verfügung stellte, da diese Thematik natürlich wunderbar zur inhaltlichen Ausrichtung meines Projekts passt.

Ein Gastbeitrag bietet sich dabei schon alleine deshalb an, weil ich mich rein gar nicht auskenne, was Manga und Anime angeht. Für den Fall, dass das Teilen der Leserschaft ähnlich gehen sollte, sei kurz angemerkt, dass man außerhalb Japans unter „Manga“ grob gesagt japanische Comics versteht, oder aber Comics, die diesen stilistisch nachempfunden worden sind. In Japan selbst hingegen handelt es sich um eine Bezeichnung für Comics im Allgemeinen. Der Begriff „Anime“bezieht sich dementsprechnd außerhalb Japans auf japanische Trickfilme oder Trickfilme, die diesen stilistisch entsprechen, während das Wort in Japan selbst Trickfilme im Allgemeinen bezeichnet.

Manga 1

Photo: Ariane vom Nerd-mit-Nadel-Blog (Vielen Dank für das Bild!)

Es folgen also nun in redaktionell leicht überarbeiteter Form die beiden Texte, die ich hier zusammengefügt präsentiere, wobei das Photo weiter unten den Übergang vom ersten zum zweiten Teil markiert:

„Den meisten Anime- und Manga-Fans wird sicher aufgefallen sein, wie intensiv in diesen Medien Bezug auf germanische Mythologie und die griechische Antike genommen wird. Das mag zunächst verwundern, hat aber eine lange Tradition und einen klar definierten Ursprung. Schuld daran sind wie immer die Katholische Kirche und die USA. Beginnen wir aber beim Anfang, im Jahre 1543, als die Portugiesen als erste Europäer nach Japan kamen. Wie überall auf der Welt lagen Handelsinteressen im Vordergrund, in deren Schatten die christlichen Missionare kamen. Dieser christliche Glaube war es, der dem Shogunat ein Dorn im Auge war, weshalb sich Japan ab 1635 gegenüber dem Ausland für 200 Jahre vollkommen isolierte. Und diese Missionare waren es, die den Grundstein für die Liebe zum antiken Griechenland legten. Sie benutzten nämlich zum Zwecke der Missionierung die Fabeln des Griechen Aesop. Diese Tiergeschichten hatten einerseits den Zweck, den Einheimischen westliche moralische Werte zu vermitteln, andererseits auch sich gegenseitig Sprache beizubringen. Nach dem späteren Rauswurf der Christen sind die Fabeln jedoch erhalten geblieben, wurden weiter tradiert und regional angepasst.

Zum Beispiel gibt es da die Fabel von den Ameisen und der Zikade. Im antiken Griechenland haben die Ameisen das ganze Jahr Nahrung gesammelt, um den Winter zu überstehen, während die Zikade faul herumlag und am Ende verhungerte. In Japan aber wurde es so umgeändert, dass die Zikade am Ende bei den Ameisen aufgenommen wurde und überlebte. In dieser Zeit der Abschottung waren nur auf einer kleinen Insel Ausländer erlaubt, nämlich in einem kleinen niederländischen Handelsposten. Dorthin kamen viele deutsche Ärzte, die bald großes Ansehen genossen und die Medizin Japans stark beeinflussten. Tatsächlich sind auch heute noch viele medizinische Fachbegriffe dort auf Deutsch in Verwendung.

1853 landeten amerikanische Schiffe in der Bucht von Edo und zwangen Japan, sich wieder international zu öffnen. Japan war aber kein schwaches Land, das sich kolonisieren ließ, im Gegenteil konnte es sich seine Besucher selber auswählen. Dank der oben genannten Ärzte war dann auch Deutschland die erste Adresse für japanische Interessen. Wie es der Zufall nun so wollte, war dies genau jene Zeit, als unter den deutschen Gelehrten sich viele dem Philhellenismus verbunden fühlten. Sie sahen sich als Verteidiger einer großartigen antiken Zivilisation und unterstützen den Freiheitskampf Griechenlands gegen das Osmanische Reich. Diese deutschen Philhellenen gelangten dann nach Japan und sahen sich irgendwie berufen, ihre Liebe zur Antike dort zu verbreiten.

Sehr viel, was die heutige japanische Kultur ausmacht, stammte damals aus Deutschland. Das Schulsystem allgemein basiert auf dem deutschen Gymnasium, die Schuluniform auf dem preußischen Militär. Sogar das japanische Wort für „Arbeit“ – „arubaito“ (kurz: „baito“) – ist eigentlich Deutsch. Es ist auch bezeichnend, dass Altgriechisch sehr bald an höheren Schulen unterrichtet wurde, während Latein erst spät im 20. Jahrhundert nach Japan gelangte. (Das erste Foto eines japanischen Kaisers ist übrigens vom österreichischen Baron Raimund Von Stillfried gemacht worden.)

Darin liegt also der Ursprung für die Liebe zu und die Kenntnis von germanischen und griechischen Mythen, Wörtern und Traditionen. Die konkrete Rezeption in Anime und Manga folgt nun im zweiten Teil.“

Manga 2

Photo: Ariane vom Nerd-mit-Nadel-Blog (Vielen Dank für das Bild!)

„Wie bereits oben ausgeführt, ist die griechische Antike und Mythologie in Japan sehr bekannt und beliebt. Daher möchte ich jetzt diesen zweiten Teil dazu verwenden, um einige Animes und Mangas zu nennen, die darauf zurückgreifen und auch ganz allgemein über diese Verwendung zu sprechen.

Es ist natürlich ein unmögliches Unterfangen, alle Animes und Mangas aufzulisten, da fast in jedem eine Referenz in irgendeiner Form gemacht wird, sei es die griechische Statue als Mordwaffe bei Detective Conan, Herkules als Gegner im Jenseits bei Dragon Ball Z oder antiker griechischer Goldschmuck als Beute bei Lupin III. Dazu kommen auch noch die unzähligen Verwendungen von Namen für irgendwelche Projekte, Strukturen oder Waffen, etwa „Aegis“ bei God Eater oder einfach der inflationär gebrauchte Begriff „Gaia“ – ebenso auch germanische Begriffe wie „Yggdrasil“. Ganz zu schweigen von all den Kreaturen, wie Kentauren, Chimären etc. Dann noch die Verballhornung der griechischen Schrift, gemeinsam mit den germanischen Runen, um eine Atmosphäre der Mystizität zu schaffen. All das findet deshalb statt, weil diese beiden Welten in Japan sehr bekannt sind und daher einen Wiedererkennungswert in sich bergen, aber dennoch fern und fremd genug, um exotisch, mystisch, fantastisch zu wirken.

Die bekannteste Serie ist sicherlich Saint Seiya, wo jeder Charakter der griechischen Mythologie entspringt und die ganze Hintergrundgeschichte darauf basiert. Am Ende wird dort sogar noch die germanische Mythologie eingebaut. Eine andere Serie, bei der der Einfluss der griechischen Mythologie an allen Ecken und Enden zu erkennen ist, wäre Sailormoon. Man erkennt vor allem an den Namen, wo sich die Autorin hat inspirieren lassen, etwa die Katze Artemis oder Prinz Endymion, aber auch die Gegner können teilweise von dort hergeleitet werden, zusätzlich zur Optik des Königreichs auf dem Mond.

Campione! Matsurowanu Kamigami to Kamigoroshi no Maou ist eine Serie, in welcher der Hauptcharakter nach Sizilien und später durch sämtliche Mittelmeerländer reist und dabei auf alle möglichen Götter und Kreaturen der griechischen Antike trifft. Auch in der aktuellen Serie Danmachi (oder Is It Wrong to Try to Pick Up Girls in a Dungeon?) spielen griechische Götter, allen voran Hestia, und Kreaturen eine zentrale Rolle.

Man sieht, der Varianz und Kreativität, mit der die griechische Antike in Anime und Manga aufbereitet wird, kennt keine Grenzen. So mancher moderner konservative Philhellene wird vielleicht den Kopf schütteln, wenn seine ach so geliebte Kultur derart recycelt wird, aber machen Filmemacher in Hollywood und Fantasy-Autoren nicht dasselbe? Ich jedenfalls freue mich immer wieder, wenn ich diese Elemente sehe und erkenne. Denn auch die Griechen haben viel recycelt und ihrem Zeitgeist angepasst, aber das ist eine andere Diskussion.“

Zum Abschluss noch einmal die Links zu den Originalbeiträgen, für die ich mich sehr bedanke:

https://meinekritiken.com/2017/10/18/gedankensprung-antikenrezeption-in-anime-und-manga-i-historische-wurzeln-in-deutschland/

https://meinekritiken.com/2017/11/08/gedankensprung-antikenrezeption-in-anime-und-manga-ii/

Und noch etwas weiterführende Literatur, die der Autor des Textes empfiehlt:

Ancient Greece in Present Japan, Mariko Sakurai, Emeritus Professor at the University of Tokyo, Japan (PowerpointPräsentation)

„Meine Forschung“: Ein griechischer Autor „big in Japan“ (Vorstellung eines Promotionsprojekts)

Manga Greece Shinwa (besonders einschlägiges Manga zum Thema)

Tsuzoku Isoppu monogatari 通俗伊蘇譜物語.A Popular Version of Aesop’s Fables. (Online-Sammlung des British Museum)

Germanismen in der japanischen Sprache (Wikipedia)

A Career of Japan. Baron Raimund von Stillfried and Early Yokohama Photography

Manfred Pohl: Japan (Vorstellung der Geschichte des Landes in der Beckschen Reihe)

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